■ berlin spinnt: Ho, ho, ho! Weihnachtsmänner gegen Kohl
Der erste Engel steht an der Bushaltestelle. Eine desillusionierende Begegnung: Engel sollten ihre Flügel nicht einfach abnehmen und unter den Arm klemmen. Auch ist das Haupthaar der jungen Frau gar nicht so gülden, wie bei anständigen Engeln sonst üblich.
Als der 100er Bus am Brandenburger Tor hält, ist schon von weitem eine diffuse Masse aus Rot, Weiß und Tannengrün auszumachen. Rund 200 Weihnachtsmänner und ein paar Engel drängeln sich zur „Vollversammlung“. Hinter der pittoresken Zusammenrottung der Rotbemäntelten stehen rohe finanzielle Interessen. Alle stehen bei der studentischen Arbeitsvermittlung „Heinzelmännchen“ unter Vertrag und hoffen, künftig mehr Aufträge zur Geschenkübergabe unter geschmückten Nordmanntannen abzugreifen.
Einige der weißen Bärte, die um studentische Kinnpartien baumeln, wirken leicht angefilzt, überhaupt fällt eine gewisse Lässigkeit des Feiertagpersonals auf. Unter manchen Mänteln blitzen Sportschuhe und Biker-Stiefel hervor, einer hat statt des Jutesacks eine ordinäre Plastiktüte dabei. Niemand scheint wirklich Lust zu haben, repräsentativ und fotogen in der Kälte herumzulungern, doch die Stimmung ist ausgelassen. Für die anwesenden Kamerateams rufen alle schnell „ho, ho, ho!“ und bimmeln mit ihren Glöckchen. Dann werden auf Kommando fröhliche Weihnachtslieder abgesungen. „Oh Tannenbaum“, „Jingle Bells“, alles, was Weihnachtsmänner so draufhaben sollten. Nur christliches Liedgut ist bei den Einstellungsgesprächen offenbar kein Thema gewesen, denn alle kramen nach Textzetteln. Die Darbietung erreicht annähernd die Musikalität des Hertha-Fanblocks nach einem 1:0 im Olympiastadion. Zum Glück grölt nicht auch noch die umstehende Berliner Bevölkerung mit. Die gibt sich schweigend dem visuellen und akustischen Christmas-Overkill hin.
Der Engel von der Haltestelle hat jetzt doch eine waschechte Engelsperücke aufgesetzt. Im richtigen Leben heißt das Wesen Sabine, ist 27 und studiert Psychologie. Im Gegensatz zu ihrem Kommilitonen Marc, 33, der dieses Weihnachten schon zum fünften Mal den Geschenke-Überbringer mimt, hat Sabine heuer Engel-Premiere.
Als noch einmal für die Fotografen posiert, gebimmelt und hohohot wird, kommt es zu einer verbalen Entgleisung: „Nie wieder Kohl!“ bricht aus einem der Studenten heraus. Ob er das in fremden Wohnzimmern auch sagen darf? Vielleicht hängt dem Armen auch einfach nur die obligatorische Rotkohlbegleitung zur Weihnachtsgans zum Halse raus. Iris Krumrei
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