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Singen wie ein Wal auf einem einsamen Berg

■ Schimmert wie ein Stern und wirkt mal wie ein Kind mit zu kurzem Pony, mal wie eine männerverschlingende Diva: PJ Harvey präsentierte sich in Berlin äußerst selbstdiszipliniert

Es geht ganz unspektakulär los. Ohne jede Vorankündigung kommen die Musiker auf die Bühne, mit ihnen Polly Jean Harvey höchstselbst, als handele es sich hier um ein Arbeitstreffen. Kein „Hallo Berlin!“, kein „Wie geht's?“, kein großes Menkenke. Und so bleibt es auch. Den ganzen Abend konzentrierte Gesichter, die totale Selbstdisziplinierung ausdrücken. John Parish, mit dem sie vor zwei Jahren ein Album produziert hat, spielt mal Gitarre, mal Baß, der Schlagzeuger Rob Ellis singt manchmal in höchster Stimmlage mit: „A Perfect Day Elise“, aber alle auf das königliches Kommando der Harvey, meisterhaft durchchoreographiert.

Harvey produziert nicht sich, sondern ihre Lieder. Und gerade damit führt sie den Gottesbeweis. Wie kann das sein? Wie kann eine Frau so außer sich, so außer- und zugleich unterirdisch sein? Schimmern wie ein Stern, wie ein Kind mit zu kurzem Pony und wie eine männerverschlingende Diva zugleich? Wie kann eine so zarte und zierliche Person solche Geräusche erzeugen?

Wahrscheinlich gibt es zur Zeit keine Musikerin, die gründlicher an ihrer Stimme gearbeitet hat als Polly Jean Harvey. Sie kommt aus den tiefsten Tiefen ihres Körpers. Es scheint ihr fast mehr um den Klang von Silben und Wörtern, um Phrasierung und Atemtechnik, um kehliges Schluchzen und Heulen, Seufzen, Stöhnen, Krächzen, Kreischen und Brüllen zu gehen als um ihre Bedeutung.

Ja, Polly Jean Harveys Lieder handeln von Liebe und Unterwerfung, sie singt mal in der Rolle des Opfers, der Aggressorin oder der Komplizin. Mal gibt sie das verletzte Mauerblümchen, mal den Vamp, die Nixe, mal, wie im Duett mit Nick Cave, den traurigen Todesengel, die Femme fragile. Ihre Frauengestalten verstümmeln sich selbst, wohnen auf einem einsamen Berg, um dort zu singen wie ein Wal.

Die blutige Sehnsucht, um die es ihr geht, hat aber kein Gegenüber. Die dargestellten Gefühle klingen am inbrünstigsten, wenn ihr Auslöser abwesend ist. Sie singt nicht aus dem Augenblick der Erfahrung heraus, sondern über die viel intensivere Spur, die diese hinterlassen – vielleicht ohne jemals stattgefunden zu haben.

Darum paßt es so gut zu Harveys Image, in der englischen Kleinstadt zu wohnen, in der sie aufgewachsen ist, wöchentlich mit ihrem Bruder Scrabble zu spielen und der Mutter bei der Auswahl der Grabsteine für die Familiengruft zu helfen. Sie sagt, das Ich in ihren Liedern sei sie selbst, die Emotionen seien ihre eigenen. Ihre mythische Bilderwelt ist aber keine erfahrene, sondern eine erfühlte. Ihr ironisches Lächeln auf der Bühne will sagen: Schaut, wie mein Baukasten funktioniert, wie ich mich selbst zusammensetze.

Wer nicht in ihre Musik eintaucht, für den ist Harvey ein furchtbarer Quälgeist. Wer sich aber an ihre Lippen hängt, wird nicht mehr von ihnen loskommen. Werfen die einen ihr vor, sie kehre wie konservative Feministinnen Vergewaltigungsphantasien einfach um, reicht den anderen schon ein winziges Zucken ihres Mundwinkel, um in verzücktes Gelächter auszubrechen. Diese Leute hat sie eingefangen, so sicher wie das Netz den Fisch. Ihre neueste Platte, „Is This Desire?“ führt die klaustrophobische Stimmung des vorletzten Albums „To Bring You My Love“ ins Bodenlose. Die Songs sind zärtlicher, entspannter als je zuvor, übernächtigt und verkatert. Anstatt wie früher auch das Wasser zu beschreiben, scheinen sie sich jetzt selbst unter Wasser zu bewegen.

Diese Stimmung liegt wie ein Zauber über dem Konzert, das sich bis auf eine Handvoll Ausnahmen auf das neue Album beschränkt. Die Atmosphäre ist gedämpft, alle starren wie versteinert auf die Sängerin, die nur sehr sparsam zu den meist schleppenden Rhythmen hin- und herschaukelt. Den Blick auch nur eine Sekunde von ihr zu wenden, um zum Beispiel zu tanzen, das vermag fast niemand. Susanne Messmer

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