„Die Lähmung durch die Schoah überwinden“

■ Das Judentum ist „in“. Um in der öffentlichen Umarmung nicht die Orientierung zu verlieren, trafen sich in Berlin Juden aus Europa und den USA zu einem Kolloquium über ihre Identität

Jüdische Witze gab's natürlich auch – der zum Beispiel: „Was ist ein Philosemit?“ „Ein Antisemit, der Juden liebt.“

Der bittere Humor beleuchtet einen Aspekt der denkwürdigen Konferenz, die am Wochenende im Centrum Judaicum in der Berliner Oranienburger Straße, gleich neben der Synagoge mit der wunderschönen goldenen Kuppel stattfand: Jüdische Themen sind „in“ in Deutschland, ja in ganz Europa. Dabei ist die öffentliche Umarmung der wenigen Juden in Deutschland so eng, daß vielen die Luft wegbleibt und die Orientierung verloren geht. Deshalb das Thema des Kolloquiums: „Galut (Exil) 2000 – Aufbruch zu einer europäisch-jüdischen Identität“.

Ein Kongreß jüdischer Selbstbestimmung also, veranstaltet von einem Freundeskreis junger Berliner Juden (mit wenigen Nicht-Juden), die „die Lähmung durch die Schoah überwinden und selbstbewußt in die Zukunft blicken“ wollen, wie Hartmut Bomhoff (32), Vorsitzender des multinationalen Vereins, erklärte.

Dabei ist der Name, den sich der Freundeskreis gegeben hat, Programm: „Gesher“ (Brücke). Denn es geht darum, Brücken zu bauen zu anderen jüdischen und nicht-jüdischen Gemeinschaften, zu anderen Minderheiten in Europa. Gesher will „das jüdische Lebensgefühl einer jungen Generation zum Ausdruck zu bringen“, anstatt „immer nur auf die politischen Aus- und Zufälle der Mehrheitsgesellschaft zu reagieren“.

Kaum erstaunlich war deshalb, daß die etwa 80 Teilnehmer des Kolloqiums, vor allem Wissenschaftler aus Europa und den USA, die Walser-Bubis-Debatte nur in Nebensätzen erwähnten – sie erschien während der Konferenz wie eine Schlacht aus der Vergangenheit, die Diskussion unter Juden ist offenbar schon weiter.

Das machte die Pariser Geisteswissenschaftlerin Diana Pinto in ihrem eindrucksvollen Eröffnungsreferat („Eine neue jüdische Identität für Europa nach 1989“) deutlich. Ihre Hauptthesen: Nach dem Ende der Teilung des Kontinents und der Diktaturen im früheren Ostblock habe sich die jüdische Welt in Europa grundlegend gewandelt. Wer hier trotz offener Grenzen bleibe und nicht nach Israel oder die USA auswandere, müsse sich mit Europa auseinandersetzen, da er freiwillig hier sei und sich nicht mehr als Gast begreifen könne. Israel habe sich vom Gelobten Land zum Streitpunkt unter Juden entwickelt.

Gleichzeitig würden Juden nun als gleichwertige Gesprächspartner akzeptiert – das Papstwort von den Juden als „unseren älteren Brüdern“ sei Ausdruck dafür. Hinzu komme, daß überall in Europa, nicht nur in Deutschland, der Holocaust und die Mitschuld vieler Beteiligter in der öffentlichen Debatte so präsent sei wie nie, auch in den während des Zweiten Weltkriegs von Deutschen besetzten Ländern: Diskussionen etwa um die früheren jüdischen Kunstschätze zeigen dies.

All dies verlange eine neue Selbstdefinition der Juden. Als frühere Verfolgte, als „Wächter des schwarzen Lichts“ der Schoah, wüßten sie um den Wert der Menschenrechte. Diese Erfahrung dürften sie nicht für sich behalten – doch: Wie könnten sie so „zur Brücke werden, ohne den Holocaust zu banalisieren“?

An diese Überlegung knüpfte Michael Galchinsky, Dozent für jüdische Studien an der Georgia State University in Atlanta, an. Er begriff die Diaspora, das Leben in einer nicht-jüdischen Gesellschaft, als Chance für die Juden Europas: Im Gegensatz etwa zu Juden in den USA oder in Israel, die ob ihrer relativ großen Zahl in einer komplett jüdischen Welt leben könnten, neigten europäische Juden weniger zu Selbstisolierung, müßten offener sein. Galchinsky forderte dazu auf, von den Erfahrungen auch nicht-jüdischer Minderheiten zu lernen, die ebenfalls in der Diaspora leben, und Allianzen etwa mit der türkischen Minderheit in Deutschland zu bilden.

Tom Freudenheim, stellvertretender Leiter des entstehenden Jüdischen Museums in Berlin, beleuchtete die Situation der Juden in Berlin. Selbst in seiner großen jüdischen Heimatgemeinde in den USA gebe es nicht eine solche Vielzahl von Veranstaltungen zu jüdischen Themen wie in Berlin: „Das ist der jüdischste Raum, in dem ich je war.“ Er verstehe dies nicht, warnte aber vor zuviel Philosemitismus in der Hauptstadt, denn auch ein Zuviel an Liebe sei schädlich: „Philosemitismus ist so gefährlich wie Antisemitismus.“

Für sein Jüdisches Museum versprach er deshalb ein offenes Konzept, das mehr Fragen stelle, als es Antworten gebe. Wer sein Museum besuchen werde, solle es „verwirrt“ verlassen, nicht mit der Ansicht: „Jetzt weiß ich, was Judentum ist.“ Schließlich gehöre Pluralismus zum Wesen des Judentums. Jüdisch werde das Museum deshalb nicht durch seinen Namen, sondern durch die Werte und Themen, die es zeige.

Doch woher kommt überhaupt die Renaissance jüdischen Lebens in der Hauptstadt? Michal Bodemann, kanadisch-deutscher Soziologe, erklärte diese Blüte mit der starken finanziellen und politischen Unterstützung der Gemeinde durch die Stadt: So kämen 44 der 47 Millionen Mark im Etat der Gemeinde aus dem Hauptstadtsäckel. Hinzu komme die gestiegene Bedeutung der Frauen innerhalb der Gemeinde und natürlich der enorme Zuzug von Juden aus den Staaten der GUS.

Seine Prognose für die Zukunft der Gemeinde in Berlin: Es werde eine größere Vielfalt im jüdischen Leben geben. Figuren wie Heinz Galinsky oder Ignatz Bubis, die das jüdische Leben nach außen stark bestimmen oder bestimmt hatten, stellten „Rollen der Vergangenheit“ dar. Das jüdische Leben in Deutschland werde konfliktreicher werden, was einhergehe mit einem Verlust an politischer Kraft. Dabei spiele die jüdische Gemeinde in Berlin eine Vorreiterrolle: An ihr werde sich zeigen, ob das Judentum in Deutschland in Zukunft dazu neigen werde, einen „Kult der Unterschiedlichkeit“ zur Mehrheitsgesellschaft zu pflegen oder seine Offenheit zu bewahren.

Dies betonte auch die Historikerin Diana Pinto noch einmal gegen Ende des Kongresses: Obwohl der Eindruck entstehe, daß die jüdischen Räume in den europäischen Gesellschaften um so größer seien, je weniger Juden es in ihnen gebe, hätten sie nicht die „kritische Masse“, um diese Gesellschaften entscheidend zu prägen. Die Juden in Europa blieben auch in Zukunft in der Diaspora – eine Situation allerdings, die sie bereichere, müßten sie sich doch stets an der Mehrheitsgesellschaft reiben, ihre eigene Identität immer wieder hinterfragen. Die Pluralität des Judentums könne Europa bereichern, doch nur unter einer Bedingung: Wenn das Judentum lebendig sei. Philipp Gessler