Vom Hinschauen

Martin Walser, Schriftsteller, bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 11. Oktober: „Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz; kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum; wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, daß sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt. Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an, wegzuschauen.“

Ignatz Bubis, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, zum Jahrestag der Pogromnacht von 1938 am 9. November: „Nur damit Herr Walser und andere in ihrem Selbstbefinden nicht gestört werden und ihren Seelenfrieden finden können und der Eindruck des Instrumentalisiertwerdens nicht entsteht, kann man nicht darauf verzichten, Filme über die Schande zu zeigen. Da ich davon ausgehe, daß Walser, genau wie ich, nicht einer 'Kollektivschuld‘ das Wort redet, verstehe ich nicht, warum sich Walser beim Anschauen dieser Filme als Beschuldigter attackiert fühlt.“

Klaus von Dohnanyi, Hamburger Exbürgermeister, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. November: „Ich finde auch, man muß es jedem einzelnen überlassen, wieviel von den Verbrechen zu sehen er ertragen kann und wie oft er sie sehen will. Ich, zum Beispiel, habe alle großen Filme über den Holocaust nicht gesehen, auch nicht 'Schindlers Liste‘. Ich weiß, was war, und meine seelische Konstitution hält das einfach nicht aus. Ich verlasse immer den Raum, wenn im Fernsehen solche Schrecken gezeigt werden. Mag sein, daß ich zu empfindsame Nerven oder auch zu deutliche Erinnerungen habe. Mag aber auch sein, daß ich die letzte Würde der Opfer verletzt sehe, wenn diese in ihrem Leid und Schrecken von bequem gekuschelten Zuschauern bei Popcorn und Cola im Kino begutachtet werden.“

Richard von Weizsäcker, Altbundespräsident, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 20. November: „Gegen das ungeheuerliche Gewicht des geschehenen Verbrechens kommen wir mit einem Schutz unserer Verletzbarkeit nicht an.“

Günter Rohrbach, Filmproduzent, in der Süddeutschen Zeitung vom 26. November: „Wenn Walser wegschauen möchte, mag er das tun. Was er freilich fordert oder zumindest suggeriert, ist eine Enthaltsamkeit, die ihn vom Wegschauen entbindet. An die Stelle eines von selbsternannten Gewissensinstanzen verordneten Gedenkens möchte er offenbar den öffentlich erzwungenen Verzicht setzen.“