Berliner Ökonomie: Wir küssen gerne
■ Bauchfettringe anhimmeln oder Die Sehnsucht nach dem Senioritätsprinzip
Das mußte ja so kommen. Bei der begrenzten Anzahl an Körperöffnungen und nachdem nun auch schon Sodomie, Kindersex, SM, Table-Dancing, Gang-Bangs und Swinger-Parties so gut wie durch sind, ist der Seniorensex im Kommen. Er deutete sich schon durch die merkwürdige Zunahme von Pornoheften mit Titeln wie „Old Ladies Extreme“, „Young and Old“, „40plus“, „Alte Fotzen“ und „Verfickte Omis“ an. Aber auch in den Sex-Kinos, wie die Berliner Puffs oft heißen, machte sich diese Tendenz bereits bemerkbar: Die dort „pralle Platzanweiserinnen“ genannten Prostituierten werden immer dicker und älter! „Cappucchino, das neue Trendgetränk“, steht in der Getränkekarte des Weddinger Sex-Kinos „Mon Chérie“, wo kaum noch eine Platzanweiserin unter fünfzig ist. Wir haben es tatsächlich mit einem Trend zu tun, mit all den damit zusammenhängenden Folgen: Trittbrettfahrer, Trendverpasser, Trendtopper und trübe Tassen.
Die Puff-Paraphernalia-Providerin Maria Tiedemann meint, es gibt 900 Bordelle in Berlin, die müssen sich notgedrungen immer mehr diversifizieren. Als besonders trendy lobt sie das in den Berliner Stadtmagazinen annoncierende Alternativbordell „Psst“, das die Besitzerin Felicitas offen als eine Wilmersdorfer Cocktailbar führt. Etwa 80 nebenberufliche Prostituierte führt sie in ihrer Kartei: Geschäftsfrauen, Gärtnerinnen, Kosmetikerinnen, Tierpflegerinnen. Sie sprechen laut eigener Angabe „Hebräisch, Griechisch, Latein“ und sind mindestens „reisefreudig“. „Wir küssen gerne!“ heißt es in den Annoncen. Die Diplomprostituierte Alice Frohnert schimpft: „Küssen, das ist ja widerlich! Es war doch mal erkämpftes Recht der Hurenbewegung, so etwas nicht tun zu müssen. Jetzt machen die schon aus der Not eine Tugend, das ist nur traurig. Und so etwas auch noch als alternativ zu verkaufen, ist eine Lüge. Sie paßt aber zu diesen ganzen TV-Magazinen à la ,Wa(h)re Liebe‘ [in dem das ,Psst‘ angepriesen wird]. Auch daß die Frauen sich dort die Freier aussuchen können, ist einfach nicht wahr: Da verdienen die doch nichts – gar nichts!“ „Aber es stimmt, ich kann es bezeugen“, entgegne ich schwach. Felicitas' Bordellbar und Marias Dessous-Handel sind im übrigen auch übers Internet zu „erreichen“! Generell ist Alice aber zuzustimmen: Das gewerkschaftliche „Kobern“ (d.h. jeden Handgriff extra zu berechnen) gehört längst der Vergangenheit an bzw. kommt nur noch auf den Touristen-Straßenstrichen gelegentlich zur Anwendung. Der Druck von unten wird stärker, auch durch die älteren Frauen, die bei Geschäftsübernahmen nicht weiterbeschäftigt werden.
Nicht zu vergessen all die plötzlichen Vorruheständlerinnen im Osten, von denen es in den nächsten Jahren noch zigtausend mehr geben wird. In Berlin geht inzwischen eine ganze Gruppe ehemaliger Schuhverkäuferinnen – jede für sich – anschaffen: um ihre Sozialhilfe aufzubessern. Im Gegensatz zu den jüngeren Prostituierten gibt es für sie keine Umschulungs-, Fortbildungs- oder AB-Maßnahmen mehr. Die älteren Frauen gehen dabei nicht von einem Bild der Frau aus, sondern von Erfahrung, manchmal auch „Handling“ genannt. Dabei werden Perücken, verhärtete Gesichtszüge und überschminkte Partien nahezu bedeutungslos. Sie empfinden das generell als demütigend, nichtsdestotrotz entwickeln sie am konkreten Fall große Leidenschaft – weil und obwohl ihre Freier dasselbe empfinden? Sie waren, so sagte es eine namens Wilma einmal, „bereits früher immer leidenschaftliche Verkäuferinnen gewesen!“
Eine andere, Johanna, ergänzt: „Einmal gute Verkäuferin – immer gute Verkäuferin!“ Kann es sein, daß Insektenforscherblick, Leidenschaft und die Ruhe der Vernunft sich am Ende doch nicht ausschließen? Das alte Schauspielideal von Stanislawski! Vielleicht sind diese Schuhverkäuferinnen- Prostituierten bloß die letzten Schauspieler alter Schule. Kein Wunder, daß es auf den von Abwicklung bedrohten Berliner Theaterbühnen immer koitaler zugeht: aus falsch verstandener Solidarität!
Und was sagen die Freier zu dem neuen Trend? Willi (42): „Früher hieß es immer gleich, wenn man sich für eine ältere Frau interessierte: Der sucht bloß einen Mutterersatz. Das ist entweder eine Binsenweisheit oder böse. Jetzt ist mir jedenfalls klar, daß die aus den Fugen geratenen alten Frauen das festgefügte Frauenbild, das mich sonst immer gereizt hat, abgelöst haben. Sich von jemandem ein Bild machen, zeugt überhaupt von juveniler Blödheit, auch und erst recht bei Prostituierten. Genauso wie umgekehrt das Anhimmeln irgendeiner Deformation, und seien es Bauchfettringe – als Fetische oder so. Es geht um die Einstellung zur Sache. Es geht darum, das Beste draus zu machen. Und das ist etwas Tolles! Mindestens Tolldreistes.“ „Wenn du derart ihre soziale Verelendung als Freiheit verherrlichst, eskamotierst du die Notwendigkeit des Klassenkampfes...“ „Ach, hör doch auf mit dieser unfruchtbaren Gegenüberstellung von Selbständigkeit und Kollektivwiderstand. Ich sage dir, die alten Nutten von heute, das sind die Rädelsführer von morgen!“ „Woher nimmst du diese Zuversicht?“ „Keine Zuversicht, das ist eine schlichte Grundtatsache: Je kälter das Klima, desto mehr Warmherzigkeit. Geh doch einfach mal zu so einer alten Frau!“ „Die wollen mich ja nicht.“ „Da hast du doch deine Freiheit, was willst du eigentlich?!“ Helmut Höge
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen