piwik no script img

■ QuerspalteDie Mauer in den Füßen

Endlich ist auch das wissenschaftlich geklärt. Schuld am schleppenden Ost-West-Vereinigungsprozeß in der Hauptstadt sind die steinlahmen Füße der Berliner. Behaupten jedenfalls die Stadtgeographen Joachim Scheiner und Hartmut Lichtenberg von der Freien Universität Berlin. Nach zweijähriger Forschungsarbeit haben die Barfußwissenschaftler herausgefunden, daß der gemeine Berliner nur über einen engen Lebensradius verfügt, kaum aus seinem Kiez herauskommt und keine weiten Wege in andere Stadtteile zurücklegt: Ostberliner bleiben im Osten, Westberliner im Westen. Titel der Studie, die zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls 1999 veröffentlicht werden soll: „Die Mauer in den Köpfen – und in den Füßen“. Die Mauer in den Füßen? Ja, wer hat denn die gebaut? Walter Ulbricht? Eberhard Diepgen? Besteht sie aus Stein oder Beton? Kann man mit einer Mauer in den Füßen überhaupt laufen? Was, wenn sie schlecht verputzt ist und der Mörtel bröckelt? Wird die Mauer im Fuß dem gewöhnlichen Platt-, Senk- oder Schweißfuß den Rang ablaufen? Gibt es schon die ersten Maueropfer? Ach, deshalb staksen Berliner Frauen gern auf breiten Plateausohlen betonträge durch die Stadt: weil das Mäuerchen im Fuß kein schöner Anlick ist und verborgen sein will. Deshalb schießen an jeder Ecke Pedikürestudios wie Fußpilze aus dem Boden: „Hol schon mal den Bolzenschneider, die Stahlstreben wachsen mal wieder raus.“ Deshalb mußte die Neuköllner Marathonläuferin Uta Pippig Dopingmittel nehmen: um trotz bleischwerer Berliner Beine ihren Radius auf 42,195 Kilometer auszudehnen.

Wobei die Angelegenheit einen Pferdefuß haben mag. Kann es sein, daß zwei Wissenschaftler intelligent sind und hier eine Phrase ironisch vom Kopf auf die Füße stellen wollen? Wohl kaum. Eine dumme Metapher in eine staubdumme zu verwandeln ist nicht die hohe Kunst der Ironie. Dafür steht die Mauer in den Füßen auf zu tönernen Füßen. Die Mauer muß weg. Michael Ringel

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen