: Selbststilisierung zur ungebildeten Indianerin
■ Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú soll Teile ihrer Biographie erfunden haben
Berlin (taz) – Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú Tum soll einen gewichtigen Teil ihrer Biographie frei erfunden haben. Das berichtet die New York Times am Dienstag unter Berufung auf eine kürzlich erschienene Studie des US-amerikanischen Anthropologen David Stoll.
Demnach entsprechen wichtige Teile ihres 1983 erstmals auf spanisch erschienenen autobiographischen Buches (auf deutsch gerade bei Lamuv neu als Taschenbuch aufgelegt: Elisabeth Burgos: „Rigoberta Menchú. Leben in Guatemala“) nicht der Wahrheit. Das Buch basierte auf 26 Stunden Interview mit der venezolanischen Autorin Elisabeth Burgos und ist in der Ich-Form erzählt.
Darin schildert Rigoberta Menchú, wie sie ohne Bildung, ohne Spanischkenntnisse, inmitten eines Landkonflikts ihrer indianischen Eltern mit aus Europa stammenden Großgrundbesitzern aufgewachsen sei, einen Bruder an Unterernährung habe sterben sehen, ein anderer sei vom Militär bei lebendigem Leibe verbrannt worden. Kurz: eine bewegende Geschichte über die Unterdrückung der indigenen Bevölkerung in Guatemala. Das Buch wurde in mehrere Sprachen übersetzt.
Nach einigen Jahren Recherche und Interviews mit rund 120 Personen kommt David Stoll nun zu dem Schluß, Menchús Buch könne „nicht der Augenzeugenbericht sein, der zu sein es vorgibt“. Sie beschreibe „Erfahrungen, die sie niemals selbst gemacht hat“.
Zum Beispiel das mit der Bildung. Da heißt es, sie habe überhaupt erst kurz vor den Gesprächen mit Elisabeth Burgos Spanisch gelernt, Lesen und Schreiben sei ihr nie beigebracht worden. Falsch, sagt Stoll und zitiert Nachbarn, Angehörige, Bekannte – und die Nonnen, bei denen Rigoberta Menchú eine mehrjährige, der Mittelschule vergleichbare Schulbildung erhalten hat.
1967, heißt es in einer bewegenden Stelle des Buches, sei ihr jüngster Bruder Nicolás an Unterernährung gestorben. Doch Nicolas lebt, ist heute 49 Jahre alt und bestreitet, daß Rigoberta so etwas erlebt haben kann: „Ich hatte zwei Brüder“, sagt er, „die an Hunger und Krankheit gestorben sind, einer hieß Felipe und den anderen weiß ich nicht mehr. Aber ich habe sie nie kennengelernt, weil sie starben, bevor ich überhaupt geboren war – und das war 1949.“ Zehn Jahre bevor Rigoberta zur Welt kam. Und Nachbarn, die selbst unter dem Militär gelitten haben, bestreiten, daß es jemals öffentliche Verbrennungen von Menschen gab, wie Menchú beschreibt.
Die neuen Enthüllungen über Rigoberta Menchús Buch bewegen das Nobelkomitee nicht dazu, seine Entscheidung von 1992 zu überdenken. Das ist auch gar nicht nötig, denn die Details, die da ans Licht kommen, verändern insgesamt wenig. Es hätte alles so sein können, und die Geschichte ihrer Eltern, die in einem vom Militär angerichteten Massaker ums Leben kamen, bezweifelt niemand.
Dennoch: Der Friedensnobelpreis vor sechs Jahren war auch eine Würdigung ihrer Biographie. Das Gefühl, Selbststilisierung und Übertreibung mitgewürdigt zu haben, bleibt. Bernd Pickert
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