Letter from Shanghai
: Falsches Reh im künstlichen Schnee

■ Nicht nur zur Weihnachtszeit: Shanghai rüstet sich dauernd für das Fest der Liebe

„Saving Private Ryan“ spielte an seinem Startwochenende in Shanghai über 240.000 Dollar ein. Das ist ein Umsatzrekord, den bisher nur das Eis- und-Flut-Melodram „Titanic“ erreichte. Kate Winslet und Leonardo Di Caprio lächeln immer noch von jeder Bude an der Ecke (besonders, wenn um deren Ecke eine Schule liegt). Aber man stellt sich mit Schaudern vor, wie das beseelte Lächeln dieser rosigen Sieger über alle Klassengegensätze den blassen, zum Tod erschöpften Figuren aus Spielbergs jüngstem Opus weicht.

Am selben Wochenende, als das Grauen von Omaha über Shanghai kam, begann auch die Weihnachtssaison. Seitdem entkommt man ihm nicht mehr, dem Fest der Liebe, der Weihnachtsmänner, Tannenzweige und des – Einkaufens! Grob verallgemeinernd läßt sich sagen, daß die chinesische Vorliebe für die glückbringende Kombination von Rot und Gold bruchlos auf Weihnachtsdekorationen übertragen wurde. Bar jeder Verankerung in einer christlichen Tradition ist Weihnachten in Shanghai auch frei von der in Deutschland rituell zur Adventszeit auftretenden Konsumkritik. Kaufen, Schenken und Feiern entfalten sich in ungenierter Konsumaffirmation. Außerdem ist hier sowieso das ganze Jahr Weihnachten.

Manche Restaurants lassen die Lichterketten und die inzwischen etwas verblaßten Santa Clause einfach hängen. Die Straßenreinigung tönt auch in der heißesten, feuchtesten Sommernacht „We Wish You A Merry Christmas“, wie überhaupt die Weihnachtsikonographie ihre Anregungen unterschiedslos aus dem gesamten weihnachtenfeiernden Westen bezieht. So spielte der Weihnachtsbazar der Diplomatenfrauen mühelos reichlich Geld zur Unterstützung des neuen Kinderkrankenhauses ein, dank eines ununterbrochenen Schwarms kaufwilliger Menschen, die begeistert auch noch den absurdesten Geschenkartikel aus allen Herren Länder erwarben (die Autorin hat zum Beispiel eine besondere Vorliebe für indisches Briefpapier entwickelt).

Die Hotels dagegen wetteifern um die scheußlichste Dekoration, die meisten Kekse, und selbst vor der Tür unseres Fitneßclubs hat sich ein völlig unmotiviert mit allen falschen Kerzen strahlender falscher Weihnachtsbaum niedergelassen, inklusive falscher Geschenkpakete zu seinen Füßen. Der Fahrstuhl ist mit allerlei Rehen in Kunstschneeschwärmen zugestellt, und im letzten Jahr schwor so mancher, noch nie in seinem Leben so häufig „Silent Night“ gehört zu haben.

Erinnert man sich an Wolfgang Hildesheimers Beschreibung der Vorhölle in den „Mitteilungen an Max“, so möchte man seinem Pandämonium die bezaubernden, piepsigen Kinderstimmchen hinzufügen, die alljährlich in den Lobbies unermüdlich Weihnachtslieder singen. Andererseits: Voreilige Behauptungen, es mangele der chinesischen Vorweihnachtszeit an spirituellem Gehalt, sind ebenso unwahr wie die Unterstellung, Weihnachten sei ein chinesisches Fest geworden.

In der 1924 erbauten Kirche der ehemaligen amerikanischen protestantischen Gemeinde sang der Kirchenchor zum 1. Weihnachtstag eine chinesische Fassung von Händels „Messias“ vor einer Gemeinde, die nicht nur aus alten Herrschaften mit Missionsschulakzenten bestand. Die wenigen Ausländer hörten mit Staunen, wie zum Ende des Gottesdienstes „Happy Birthday“ (chinesisch „qing ni shengri kuaile“) angestimmt wurde. Unter allgemeinem Händeschütteln verließen wir die Kirche – draußen sauste der Shanghaier Verkehr, das gegenüberliegende Hotel pries sein Weihnachtsmenü an, und am Ende der Straße lag hell erleuchtet ein Kino, in dem in diesem Jahr „Saving Private Ryan“ läuft. Stephanie Tasch