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„Die sterne umbtragung sei bei vermeidung der gefengnüs hiermit gentzlich abgeschaffet“

Von Apfelschalen, Hörnstötern und Schüssen in den Brunnen: Der norddeutsche Erfindungsreichtum für Neujahrsbräuche war grenzenlos – und manchmal auch illegal  ■ Von Heike Dierbach

Daß die Sektkorken gerade morgen abend knallen, ist nicht selbstverständlich. Über die Jahrhunderte gab es zwei, drei, viele Neujahre. Die alten Germanen zum Beispiel kannten dafür überhaupt keinen bestimmten Tag – während ihre römischen Zeitgenossen schon einen ausgesucht hatten: den 1. März, wenn die höchsten Beamten ihr Amt antraten. 153 vor Christus wechselten Amtsantritt und Neujahr zusammen auf den 1. Januar.

Das Christentum wiederum akzeptierte diese behördliche Vorgabe nicht, sondern richtete sich nach dem Heiland: Bis in das vierte Jahrhundert galt dessen Tauftag, der 6. Januar, als Jahresbeginn, später wechselte man auf den 24. Dezember. Ganz einig waren sich aber auch die ChristInnen nicht: Noch vor 300 Jahren verteilten sich die Neujahrsbräuche zwischen diesen beiden Daten, teilweise begannen sie bereits in der Adventszeit. 1691 schließlich hatte das Termin-Chaos ein Ende: Papst Innozenz XII. legte endgültig den 1. Januar als Jahreswechsel fest.

Noch viel zahlreicher als die Daten sind die Volksweisheiten und Bräuche, die sich um die letzte Nacht des Jahres ranken: Böse Mächte treiben dann ihr Unwesen, wußten unsere VorfahrInnen (nicht nur in Norddeutschland) – und die wenigen heutigen Bräuche sind Überbleibsel ihrer Versuche, sich dagegen zu schützen. Im Wendland beispielsweise fürchteten die Menschen den Helljäger, den Teufel. Alle verbrachten daher den Silvesterabend im Haus und hielten die Türen fest geschlossen. In Mecklenburg mußten zusätzlich alle landwirtschaftlichen Geräte und sogar der Brunnenschwengel unters Dach. Die christliche Kirche bestärkte diesen Glauben mit Geschichten, in denen der Teufel jenen erschien, die den Heiligen Weihnachtsabend durch Kartenspiel entweihten.

Gegen eine andere ernste Gefahr, den durch die Lüfte reitenden Olljoahrsbock, schützten sich die WendInnen, indem sie zwischen Mitternacht und ein Uhr dreimal in den Hofbrunnen schossen. Hilfreich war auch, den dämonischen Wesen harmlose Namen zu geben – „süss ward man sei dei ganze Joahr nich lous!“ Der Teufel hieß dann unverfänglich Undiert, Mäuse wurden Lüddn genannt und Ameisen Lütt Lüd. Geblieben sind uns heute Chinaböller, Piepmanscher und Zimmervulkane, um die bösen Geister zu vertreiben.

So gefährlich die Silvesternacht den Menschen erschien, so günstig war sie auf der anderen Seite auch, um zu erfahren, was das nächste Jahr bringen würde: Hochzeit oder Tod, gute Ernte oder Unwetter? „Die Neujahrsnacht still und klar, deutet auf ein gutes Jahr“, sprach der Volksmund, aber auch: „Neujahrsmorgenröthe macht viel Nöthe.“ Auf jeden Fall war der 1. Januar eine Zusammenfassung des neuen Jahres.

Die Menschen in der Lüneburger Heide hofften deshalb, daß an dem Tag die Sonne wenigstens solange scheinen möge, wie ein Mann braucht, um sich aufs Pferd zu schwingen – denn dann gelang angeblich der Flachs, sonst leider nicht. Noch umfassender wurden die WendländerInnen über ihre Zukunft informiert: Sie schlugen am Neujahrsmorgen mit den Händen hinter dem Rücken das Gesangsbuch auf (natürlich, nachdem es die Nacht unter ihrem Kopfkissen gelegen hatte). Die Verse verrieten das Schicksal – und verursachten tatsächlich Angst und Schrecken bei dem, der zufällig ein Lied über die Hölle erwischt hatte.

Lustiger waren die Methoden, mit denen die heiratsfähigen Mädchen den Zukünftigen ermittelten. Wirft frau nämlich am „Olljoahrsabend“ langgeschälte Apfelschalen über die Schulter, so verraten deren Verschlingungen die Anfangsbuchstaben des Namens des Bräutigams. Da mußte natürlich mit Phantasie gedeutet werden, wenn es schon einen Liebsten gab. Dieser warf in Oldenburg seiner Angebeteten eine Rute ins Haus oder umwickelte Obstbäume mit einem Band.

Immerhin bot die Jahreswende auch einige Möglichkeiten, sein Schicksal zu beeinflussen: „In uns Us ebm sei früa tou Olljoahrsoamd Arfen dreimoal öawer Kopp smädn. Datt schüll Glück in Us un Feld bringn“, sagten die WendländerInnen und besprengten ihr Haus mit Branntwein, „weil der Ort das so wollte“. Andere Bräuche weisen auch eine soziale Komponente auf. So beköstigte auf Helgoland noch im vorigen Jahrhundert der Wirt in der Neujahrsnacht kostenlos seine Gäste – Freigiebigkeit bringt Reichtum, hieß es. Auch in manchen norddeutschen Städten stellten die HausherrInnen Gebäck und Getränke vor die Tür, an denen sich PassantInnen bedienen konnten. Die Schleswig-HolsteinerInnen hingegen waren lieber freigiebig gegen sich selbst: Am „Vollbuuksabend“ durfte jeder soviel essen, wie er wollte. Wer nicht satt wurde, mußte befürchten, das ganze Jahr zu hungern. Schon im Altertum in Alexandria und Rom war diese Sitte verbreitet.

Überhaupt spielten Nahrungsmittel immer eine wichtige Rolle in der Zukunftsbeschwörung und –vorhersage zu Silvester. Die Wendländer Hausfrauen stachen in ihr erstes Brot im neuen Jahr für jedes Familienmitglied ein Loch und schütteten Salz hinein. Wessen Loch nach dem Backen schwarz war, der mußte mit dem Tod rechnen, ein aufgesprungenes Loch signalisierte Krankheit. Wer ein breites Loch bekam, wanderte angeblich im selben Jahr noch aus. Das heutige Zinngießen – auch, wenn es niemand mehr ernst nimmt – steht in dieser Tradition.

Auch das Vieh ging nicht leer aus: Die Wendin buk am Silvesterabend kleine Tierfiguren zum Fressen. Auch in Mecklenburg bekamen die Tiere Feines unters Futter gemischt: ein kleines, ovales Liwbrot, einen dreieckigen Hörnstöter und ein Nest mit Eiern – letzteres bekamen natürlich die Hühner. Schweine hatten sogar ihr spezielles Schönroggenbrot. Diese „Neujährchen“ sollten Mensch und Tier Segen bringen. Manche Wendländer Bauern verfütterten ihr sämtliches Getreide vor Silvester, um Mißernten abzuwenden. Heute bekommt höchstens der Hund noch einen Berliner.

Einer der wenigen alten typisch norddeutschen Neujahrsbräuche, die sich bis heute in einigen ländlichen Gebieten und auf den nordfriesischen Inseln erhalten haben, ist das Herumziehen von Haus zu Haus in Verkleidung am Silvesterabend. Beim richtigen Rummeln bestand der Rummelpott aus einem Topf, der mit einer Schweinsblase überzogen war. In der Mitte wurde ein Rohr befestigt, das beim Bewegen ein charakteristisches Geräusch erzeugte. Heute tun's auch Rasseln und Tröten. Vor jedem Haus singen die Kinder ein Lied und bekommen dafür Süßigkeiten.

Die AmrumerInnen nennen das Hulken. Kinder und Erwachsene sind dort verkleidet, und die HausherrInnen müssen raten, wer sich unter der Maske verbirgt. Auf Föhr proben die Gruppen fürs Kenken monatelang kleine Theater- oder Musikstücke.

Verwandt sind Rummeln, Hulken und Kenken mit dem Sternsingen zu Neujahr oder am Dreikönigstag. Dies wurde vermutlich im 16. Jahrhundert in Süddeutschland „erfunden“ und breitete sich rasch bis in den Norden aus. Belegt ist seine Existenz hier netterweise durch ein polizeiliches Verbot auf der Insel Fehmarn aus dem Jahre 1635: „Die sterne umbtragung sei bei vermeidung der gefengnüs hiermit gentzlich abgeschaffet.“ 1658 sorgten auch die Hamburger Behörden mit einem entsprechenden Gesetz für „Ordnung“ in der Neujahrsnacht. Heute gelten Bettelverbote das ganze Jahr.

An die Zuverlässigkeit von Gesangsversen, Apfelschalen und Löchern in Broten glaubt natürlich 1998 niemand mehr. Aber man kann ja nie wissen. Deshalb den wichtigsten Tip unserer VorfahrInnen zum Schluß: Nie am Neujahrstag streiten – sonst gibt es Streit das ganze Jahr.

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