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Think Pink!

Die Gegenkultur der Gegenkultur wurde in einem Holzhaus namens Big Pink erfunden. Von einer Band, die sich The Band nannte. Dreißig Jahre und zehn Alben später lungern die Typen immer noch in der Gegend rum – und haben sogar eine neue Platte draußen!  ■ Von Werner Pilz

Die schmale Asphaltstraße schlängelt sich in sanften Serpentinen durch den Wald. Zu beiden Seiten weisen röhrenförmige Briefkästen mit Hausnummern und Namensschildern auf versteckt hinter den Bäumen liegende Anwesen. Auf das Haus, das wir suchen, gibt es nicht einmal den kleinsten Hinweis. Zum Glück steht am Straßenrand ein Mann in einem alten Volvo Kombi. Er kenne das Haus, lächelt er wissend. Der Mieter, Mister Gerber, betreibe dort eine Plattenfirma.

Ein hölzernes Schild – Parnassus Records – zeigt uns von da an den Weg. Bald lichtet sich der Wald über der Straße, die jetzt mehr einem ausgefahrenen Pfad ähnelt, und gibt den Blick auf ein rosafarbenes Haus frei. Wir treten durch die kleine Holztür ins Innere. Deckenhohe Regale, dicht an dicht, allesamt vollgestopft mit altem Vinyl. Ein junger Angestellter, der vor einem Computer sitzt, scheint Besuch gewohnt. „Hier haben sie gejammt und gespielt“, zeigt er freundlich auf ein Labyrinth von Plattenregalen. „Und hier“, er führt uns über eine alte Holztreppe nach oben, „haben sie abgehangen und sich ausgeruht.“ „Haben sie darauf komponiert?“ frage ich und streiche über die Tastatur eines alten schwarzen Pianos. Nein, das Mobiliar sei leider nicht mehr dasselbe.

Wie könnte es auch? Mehr als dreißig Jahre ist es her, daß an diesem Ort die legendären „Basement Tapes“ entstanden: auf einer Revox festgehaltenes Zeugnis eines Rückzugs. Es war die Zeit nach Bob Dylans schwerem Motorradunfall, und er verbrachte sie mit fünf Musikern, die er ein Jahr zuvor, 1965, als Backing Band für seine Welttournee engagiert hatte: den Kanadiern Robbie Robertson, Garth Hudson, Rick Danko und Richard Manuel sowie Levon Helm, dem Mann aus den Südstaaten. Sie folgten Dylan in die Wälder der Catskill-Berge, in die Nähe des verschlafenen Örtchens Woodstock im Staate New York, in eben jenes Haus, das sie wegen seines rosafarbenen Anstrichs nur „Big Pink“ nannten.

Es war auch die Zeit, bevor die fünf, ohne Dylan und unter dem Namen The Band, selbst Rock 'n' Roll-Geschichte schrieben. Levon Helm erinnert sich: „Bob suchte einen Platz, an dem er kreativ arbeiten konnte, seine Songs schreiben, experimentieren. Dieser Platz war Big Pink.“ Big Pink war die Gegenkultur zur Gegenkultur, die in den Sechzigern bereits begonnen hatte, Sänger in großem Stil zu Stars und Stars zu Gefangenen ihres eigenen Images zu machen. Es war ein Ort der Sammlung, aus dem Dylan, der Wandelbare, als wiedergeborener Wanderprediger hervorging – und The Band als Rock 'n' Roller, die klangen, als hätten sie bereits zu Zeiten Abraham Lincolns auf einer Südstaatenterrasse zusammen gejammt.

Big Pink, das war der Luxus eines Rock 'n' Roll-Ausnahmezustands. „Hier hatten wir zum ersten Mal Zeit“, erinnert sich Helm. „Wir mußten nicht zur Arbeit gehen, wir hatten nichts zu tun, außer nachzudenken, über Witze, über Mädchen und natürlich über Musik. Wir konnten uns für Stunden hinsetzen, irgendeinen Bluegrass- Standard singen und an den Harmonien herumbasteln. So fanden wir heraus, wie wir mit unseren Stimmen umgehen konnten. Das war etwas Neues für uns. Wir hatten Zeit, uns zu entwickeln. Aufnehmen, anhören, verbessern. Das war der Weg, auf dem wir schließlich an unser Ziel gelangten: Wir waren in der Lage, andere Menschen zu unterhalten. Und wir waren besser als der Durchschnitt. Das ist entscheidend. Sonst hört dir niemand zu.“

Les Gerber, der heutige Nutzer von Big Pink, kann immerhin ein Souvenir an die alten Zeiten vorweisen. Zielstrebig greift er in eins der Regale und holt eine alte Langspielplatte hervor. Das rosafarbene Haus prangt auf dem verblichenen Cover, mit dickem schwarzem Filzstift sind fünf Namen darübergekritzelt.

„Music From Big Pink“, das Debütalbum der Band, erschien 1968 – eine Sensation. In der Abgeschiedenheit hatten Robertson, Helm, Danko, Hudson und Manuel unter dem Einfluß von Bob Dylan zu einem musikalischen Ausdruck gefunden, der sich nicht um Aktualität scherte, sondern an verschüttete Folktraditionen anknüpfte. „Es gab nur uns. Sonst niemanden. Jeden Tag“, beschreibt Garth Hudson die Intensität der Tage in Big Pink. Während die Gegenkultur noch auf den schieren Bruch mit dem Alten, die Abkehr von der Tradition aus war, brachen The Band mit der linearen Mechanik des Protests, indem sie von Respekt sangen: Respekt vor den Traditionals, den vergessenen Outlaws und Eigenbrötlern des Landes. Vor allem Robertson erwies sich als Erzähler, der die Mythen, die Geschichte und die Folklore Nordamerikas in respektvolle Lyrics setzte. Halb Mohawk, halb Jude, aufgewachsen in den Armenvierteln von Toronto, bewahrte seine Adaption der amerikanischen Geschichte zugleich den Blick des Außenseiters.

The Band waren die Vorreiter eines Stilistik, die 1998 unter dem Label Americana wieder einige Achtungserfolge erzielen konnte. Und: Sie waren perfekte Individualisten in einem perfekten Team. Helm, Danko und Manuel überzeugten, neben ihren instrumentalen Fähigkeiten, durch ihren charakteristischen Sologesang und in den mehrstimmigen Harmonien. Hudson zeigte seine eigenwillige Kreativität an diversen Tasteninstrumenten.

Das Folgealbum „The Band“ geriet zum Meisterstück, doch bereits das dritte, „Stage Fright“ von 1970, war ihr letztes großes Studioalbum. Big Pink hat lange seine Schuldigkeit getan. Es wechselte in den Jahrzehnten mehrfach den Besitzer. Im Internet feilgeboten, fand das häßliche Gebäude etwa das Interesse nostalgischer japanischer Geschäftsleute.

Die Band hat heute einen neuen Ort gefunden. Das wuchtige, rohe Holzgebäude, 15 Autominuten von Big Pink entfernt und wie dieses im Wald nahe einem See gelegen, ist Studio und Wohnung von Levon Helm, Ort auch so mancher Session. Unvergessen, als Keith Richards unangekündigt mit einer Limousine vorfuhr und unter der hohen Empore mit Scotty Moore und DJ Fontana, der Rhythm-Section von Elvis Presley aus Sun-Record-Tagen, jammte.

Inmitten der Verstärker und Instrumente sitzen wir Levon Helm gegenüber. Mit einem Berg von Eiswürfeln kühlt er die seit langem kranke Kehle, während er mit heiserer Stimme über die Trennung der Band erzählt. Die Seelenverwandten Helm und Robertson entzweiten sich 1975 über dem großen Abschlußkonzert in San Franciscos Winterland Ballroom, das als „The Last Waltz“ in die Filmgeschichte einging. „Robbie Robertson hat mit seinem Freund Scorsese einen Film über Robbie Robertson gemacht. Du siehst keine Einstellung von Richard (Manuel), du siehst keine Einstellung von irgend jemandem außer Robbie. Er vergaß alles neben sich. Er hörte auf, ein Freund zu sein.“

1983 begann The Band wieder zu touren. Ohne Robertson, der durch Jim Weider ersetzt wurde. Nach dem Freitod von Richard Manuel kamen noch Randy Ciarlante am Schlagzeug und später Richard Bell am Piano hinzu. „Jericho“ hieß das vielbeachtete Platten-Comeback. Vor kurzem ist „Jubilation“ erschienen, anläßlich des Dreißigjährigen der Band. Es ist das beste Album seit den alten Tagen, und Levon weiß warum: „Es hat viel von dem Geist der Zeit in Big Pink. Es reflektiert die Arbeit an einem Ort wie diesem, wo wir uns täglich treffen und austauschen und arbeiten. Wo wir unsere Songs schreiben, an ihnen feilen, sie aufnehmen, sie verwerfen und wieder von vorne beginnen.“ Nur ein paar Autominuten vom Studio entfernt wohnen auch Rick und Garth. Garth' kleiner Bungalow ist vollgestopft mit Instrumenten und Equipment, die kleine Küche, die Lötpistole im Anschlag auf dem Tisch, sieht aus wie eine Radiowerkstatt. Mit der Manie des Liebhabers hat sich Hudson in seine musikalische Jugendliebe vertieft, in Partituren und Konzepte rumänischer Polkamusik. Er sinnt über einem entsprechenden Soloprojekt, notiert akribisch Sendezeiten und Repertoire eines Radiosenders, der rund um die Uhr im 2/4- Takt sendet.

Zum Ausklang des Tages lädt uns Rick Danko zum Essen ein. Seine Ballade vom letzten Kampf des Kriegers („If I Should Fail“) zeigt ihn auf „Jubilation“ in altem Glanz, seine äußere Hülle hat jedoch an Appretur verloren. David, den Küchenchef des Little Bear, des „besten Chinesen in der Gegend“, stellt er uns als seinen wichtigsten Berater vor. „Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg“, bemerkt er gutgelaunt, als seine Lieblingsspeise, in dünnem Teig fritierte Erdbeeren, serviert werden.

Als wir Woodstock über den Highway 87 in Richtung New York City wieder verlassen, liegen die Rot- und Goldtöne des Indian Summer über den Catskill-Bergen. Rick Danko hatte uns beim Abschied noch gebeten, ihm ein paar von den Fotos zu schicken, die wir gemacht haben. Auf das Angebot, sie alle Hudson zum Verteilen zu schicken, steckt Danko sein lustiges Mondgesicht ins Wageninnere. „Schick lieber jedem seine eigenen“, sagte er leise. „Wir sind die besten Freunde. Wir sind länger zusammen, als manche Leute verheiratet sind. Dennoch gehen wir nicht gerade jeden Abend zusammen aus, weißt du. Eigentlich ist es nur die Musik, die uns verbindet.“

Dann watschelt er in seiner schlabbernden Jogginghose mit rudernden Armen zu seinem Wagen und verschwindet.

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