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Schlimm! Frauenfänger schlagen in Bremen zu

■ Der vorauseilende Jahresrückblick auf das Jahr 1999 beweist: Die alt- und ehrwürdige Hansestadt Bremen wird mit unglaublichen, wahren und doch hanebüchenen Geschichten auch überregionale Aufmerksamkeit auf sich ziehen

28. Januar 1999 Ein Testbetrieb des neuen Bremer Vollzeit-Privatradios „Weserradio“ (bisher: „Radio 107.1 total lokal“) auf der neuen Frequenz bestätigt langgehegte Befürchtungen von Rundfunktechnikern: Es kommt zu häßlichen Interferenzerscheinungen mit Radio Bremen 2. Daraufhin beschließt die Landesmedienanstalt in einer eilig einberufenen Dringlichkeitssitzung, dem Privatsender die Frequenz des Deutschlandfunks zuzusprechen. Zum Ausgleich erhält der DLF täglich zwei sogenannte „Nationale Fenster“ von jeweils 15 Minuten im Programm von „Studio B“.

24. Februar 1999 Nach seiner nur knapp zweimonatigen Tätigkeit als Chefredakteur des Weser-Report wirft Axel Schuller das Handtuch. Nachdem die Tageszeitung taz enthüllt hatte, daß Schuller unter den Pseudonymen Hans H. Delmenhorst und Frieder Meiners Kommentare im Bremer Anzeiger schreibt, soll Weser-Report-Verleger Klaus Peter Schulenberg vor Wut getobt haben. Schuller kommt seinem Rausschmiß durch eine Kündigung zuvor und wendet sich mit einem selbstgestalteten und selbstgedruckten Flugblatt (“Mein neuer Mac macht's möglich!“) an die Öffentlichkeit: „Schuli moppt mich! gez. Schulli“.

13. März 1999 In der Bürgerschaft findet ein Hearing zum Thema „Jahrtausendwechsel – wie feiern?“ statt. Im Foyer eine Ausstellung von Schülerarbeiten zur Frage: Wie stellen wir uns Bremen im Jahr 2000 vor? Bremen-Marketing- und Tourismus-Experten schlagen im Zusammenhang mit Silvester 99/00 ein „Event“ vor. „Weser in Flammen“ wird begeistert aufgenommen, ebenso ein historischer Jahrmarkt mit Geißlern und einem Großspektakel „mit Weltuntergang“. Bürgermeister Henning Scherf gründet ad hoc eine Vorbereitungsgruppe „Jahrtausendwechsel für Bremen“, Schirmherr: Bürgermeister Henning Scherf.

15. April 1999 „Frauenforschung falsch verstanden“ – unter dieser Überschrift präsentiert focus eine schier unglaubliche Geschichte aus der Hansestadt. Ein scherzhaft gemeinter 1.-April-Artikel in der taz über das rätselhafte Verschwinden prominenter Bremer Frauen aus dem öffentlichen Diskurs hatte zu hektischen Recherchen des Münchener Nachrichtenmagazins geführt. Sensationelles Ergebnis: Bremerinnen, die allgemein als verzagt oder sonstwie abgetaucht galten, wurden in Wahrheit von professionellen Frauenfängern eingefangen und an ausländische Forschungsinstitute weiterverkauft. Darunter Kultursenatorin Bringfriede Kahrs, die Ex-AfB-Vorsitzende Elke Kröning, die Physikerin Inge Schmitz-Feuerhake und die Ehrengeschäftsführerin der geplanten Bremischen Anthroposophischen Klinik, Christine Bernbacher. Erschütternde Bilder von Kleinlastern mit fest installierten, voll besetzten Käfigen gehen um die Welt. Noch am selben Abend dementiert der Bremer Senat den Focus-Bericht durch gleichlautende Faxe an DPA, AP, UPS und YMCA, denen als Beweisstück die Kopie einer Presseerklärung der Kulturbehörde vom 28.6. des Vorjahres beiliegt. Unterzeichnerin: Bringfriede Kahrs.

19. April 1999 In Bremen bahnt sich eine der größten Firmenfusionen der Wirtschaftsgeschichte an. Die aus den ehemaligen Bremer Entsorgungsbetrieben (BEB), den Stadt- und Stahlwerken hervorgegangenen Gesellschaften ANO, ENO, INO, LNO, KUNO, BLINO, EXNO, ERNO, ALNO, STINO und SCHWOLLNO werden nach Informationen der Bremer Lokalausgabe der Welt.de zusammengelegt. Nach übereinstimmenden Angaben der elf Firmensprecher sind als neue Firmennamen SUNO und NONO „angedacht“, aber auch Namen wie PRINO und KLINO kämen in Frage. Die zehn überzähligen Geschäftsführer werden von BIGI, BUGI und DAGGI (früher: Bremer Investitionsgesellschaft BIG) übernommen.

12. Mai 1999 Eine der seit April als verschwunden geltenden Bremer Frauen meldet sich öffentlich zu Wort: Im Rahmen eines Tages der offenen Tür im Kulturzentrum Brodelpott legt die Physikerin Inge Schmitz-Feuerhake eine neue Expertise zur radioaktiven Umweltverseuchung durch das Atomkraftwerk Krümmel vor. Kernaussage: Verstrahlte Antimaterie kann das Kraftwerk durch „bioosmotische Prozesse“ verlassen. Die Bremer Universität distanziert sich umgehend von ihrer Wissenschaftlerin. Das lokale Fernsehmagazin buten & binnen zeigt abends einen Beitrag über das verheerende Gänseblümchensterben in der Nähe eines Windkraftwerks im Blockland.

1. Juni 1999 Mit einem Hearing in der Zweigstelle Brill der Sparkasse Bremen zum Thema „Dudelfunk? Der unverzichtbare Beitrag der populären Musik zur Weiterentwicklung und Stabilisierung von demokratischen Verhältnissen“ wird der erste Sendetag des neuen Bremer Privatradios „Weserradio“ (vormals „Radio 107.1 total lokal“) gefeiert. Auf der ersten Redaktionskonferenz, an der laut Statut regelmäßig Vertreter aller Anteilseigner teilnehmen, kommt es zum Eklat: Martin Globisch, im Radio zuständig für Prominenz und Akquisition, schiebt seinem ehemaligen Weser-Report-Vorgesetzten und jetzigen Anteilseigner Klaus-Peter Schulenberg einen Lachsack unter, woraufhin dieser Anteilseigner Klaus Wolschner (“Weserwelle“, taz) ohrfeigt. Ein niemandem bekannter Herr in braunem Cordsakko (Vertreter der Bremischen Evangelische Kirche, 0,1 Prozent Anteil) versucht vergeblich, schlichtend einzugreifen. Daraufhin schlägt Willi Lemke (für Anteilseigner „Werder Bremen“ in der Konferenz) vor, einen Supervisor zu bestellen. Sein Tip: Trainer Felix Magath. Lemke: „Was Ihr braucht, ist ein ganz harter Hund!“

16. Juni 1999 Zehn Tage nach der Bürgerschaftswahl haben die schwarz-rot-grünen Koalitionsgespräche ein erstes Spar-Ergebnis: Der Senat wird verkleinert. Aufgrund der guten einjährigen Erfahrungen mit einer führungslosen Kulturbehörde – Senatorin Bringfriede Kahrs gilt immer noch als vermißt – wollen die Koalitionäre auf eine Kultursenatorin verzichten. Das Ressort wird als Abteilung dem neugeschaffenen Ressort für Wirtschaft, Flächenankauf und Bremenmarketing angegliedert. Die Zustimmung der Grünen-Vertreterin Helga Trüpel (Ex-Kultursenatorin) muß allerdings mit einer Reihe von Zugeständnissen „erkauft“ werden: Wiederausbaggern des zugeschütteten Überseehafens und Erstellung eines Gutachtens „Wohnen und Arbeiten am Fluß“; Flächentausch mit Niedersachsen: Arberger Marsch nach Achim, dafür Lilienthaler Feuchtraumgebiete mit bedrohter Tüpfelralle nach Bremen. Nach Bekanntwerden der Sparpläne gründet sich in Bremen eine Kulturinitiative „Abstoß“, Schirmherr: Bürgermeister Henning Scherf.

18. Juni 1999 Der für Kultur zuständige designierte Wirtschaftssenator Josef „Jupp“ Hattig belebt die Koalitionsrunde mit einem neuen Sparvorschlag: „Wir machen das Focke-Museum dicht. Ruck-zuck! Der Blick gehört nach vorn gerichtet, nicht zurück!“ Man könne, so Hattig, gewisse Teile der Sammlung kostenneutral im Werksmuseum von Beck & Co unterbringen, er habe da „noch Kontakte“. Die Grünen protestieren zunächst „aufs Schärfste“, lenken später aber doch ein, als ihnen Hattig ein Gutachten zur Frage „Bremer Freiwilligen-Korps für den Kosovo“ in Aussicht stellt. Focke-Museums-Chef Jörn Christiansen am Abend zu buten & binnen: „Ich weise den Vorschlag aufs Schärfste zurück. Andererseits erhielt ich vor zwei Wochen ein Angebot vom Kreismuseum Syke, das ich nicht ablehnen kann.“ In Bremen wird eine Kulturinitiative namens „Umstoß“ ins Leben gerufen. Schirmherr: Bürgermeister Henning Scherf.

27. Juni 1999 „Wegen irreführender Konkurrenz“ gründen die Kinder von Bremer Galeristinnen, Museumsdirektoren und Theaterintendanten die Kulturinitiative „Anstoß junior“. „Wir wollen keinen Anstoß erregen, sondern vielmehr Anstoß nehmen, bisweilen auch Anstöße geben, dabei keinesfalls anstößig wirken und dennoch für den einen oder anderen Anstoß gut sein“, heißt es in der Gründungsfestschrift, die in einer von 500 Personen aus dem öffentlichen Leben (u.a. die Geschäftsführer von BIGI, BUGI und DAGGI) besuchten Veranstaltung in der oberen Halle des Bremer Rathauses vorgestellt wird. Der „Kultur vor Ort“-Redakteur des Weser-Kurier, Peter Groth, weist in einem 20zeiligen Leitartikel nach, daß diese Festschrift den gleichen Wortlaut hat wie das Manifest der Kulturinitiative „Anstoß“. Die Galeristin Katrin Rabus sperrt ihn daraufhin in einer Ausstellung mit monochromen Bildern ein.

15. Oktober 1999 Das seit Juni rund um die Uhr betriebene Bremer Privatradio „Weserradio“ heißt aufgrund eines Dreijahresvertrages mit einem Posthausener Einkaufszentrum ab sofort „Radio Dodenhof total lokal“. Bei Dodenhof wird ein „gläsernes Studio“ eingerichtet, aus dem täglich vier Stunden lang übertragen wird. In einer Pressemitteilung betont der Sender, daß durch die programmatischen Veränderungen der Wortanteil von 2,2 auf 2,3 Promille angehoben werden konnte.

26. Oktober 1999 In einem Festvortrag mit dem Titel „Wenn Wähler zu viel wählen“ analysiert der ZDF-Journalist Peter von Sobeck in der Kassenhalle der Bremer Landesbank das Bremerhavener Wahlsyndrom. Nach zwei der vier Urnengänge in der Seestadt (Bürgerschaftswahl, Volksabstimmung „Ocean Park“, Wahl zur Stadtverordnetenversammlung und Europawahl) war niemand mehr zur Urne gegangen. Die Wiederholungstermine mußten mangels Beteiligung wiederholt werden. Vor 800 begeistert „Sobi, Sobi“ rufenden Bankkunden analysiert von Sobeck: „Durch zu viel Wahlen kann es eine Lähmung, aber keinesfalls eine Leemung, jedoch wohl eine Erlahmung unter besonderer Berücksichtigung der Lahmheit oder auch Gelähmtheit geben.“ Der „Kultur vor Ort“-Redakteur des Weser-Kurier, Peter Groth, weist Ähnlichkeiten dieser Rede mit den Gründungsmanifesten der Kulturinitiativen „Anstoß“ und „Anstoß junior“ nach, sieht aber von einer Veröffentlichung ab. „Mir ist jetzt noch ganz kirre“, gesteht er der Selbsthilfegruppe der Monochromieopfer.

17. Dezember 1999 Die Findungskommission zur Neubesetzung des Radio-Bremen-Direktoriums hat sich mit zehnmonatiger Verspätung und unter rätselhaften Umständen auf eine neue Senderleitung geeinigt (Verwaltungsratschef Thomas von der Vring zur taz: „Katrin Rabus wollte uns monochrome Bilder zeigen.“). Intendant wird der Bremer CDU-Chef Bernd Neumann, Hörfunkchefin wird Esther Busch (früher „Radio 107.1 total lokal“), Fernsehchefin wird Esther Schweins (RTL, Sat 1, Pro 7, MTV, HP und INS), und Verwaltungschef sowie Justitiar wird der SPD-Bundestagsabgeordnete Volker Kröning. Kurz darauf veröffentlicht der Ex-Chefredakteur des Weser-Report, Axel Schuller, die selbstgestaltete und selbstgedruckte Nullnummer seiner Zeitung „AS für Bremen“ (“Mein neuer Compaq macht's möglich!“). Unter der Schlagzeile „Ich erwäge eine Konkurrentenklage“ interviewt sich der Herausgeber, Chefredakteur, Fotograf, Art-Director und freie Mitarbeiter der Zeitung selbst. Die Werbeabteilung von Radio Bremen startet daraufhin eine auf Zielgruppen abgestimmte Kampagne. In der City: „Klein, aber fein“, in Oldenburg: „Moin, aber moin“, im Bremer Umland: „Mein, aber Dein“ und auf dem Campus der Rice-University in Bremen-Grohn: „Three, but past nine“.

20. Dezember 1999 Nach fünfmonatigen Verhandlungen räumt die ganz große Koalition aus SPD, CDU und Grünen auch das letzte Hindernis für einen Koalitionsvertrag aus dem Weg (Helga Trüpel, Senatorin für Windkraft und Gänseblümchen: „Der Jupp ist so belesen!“ Josef „Jupp“ Hattig, Senator für alles mögliche: „Der Möhle ist so drollig prollig!“ Henning Scherf, Bürgermeister und Schirmherr sowie Gründungsmitglied der Kulturinitiative „Ausstoß“: „Ich will Helga adoptieren!“). Streitgegenstand war die Großmarktansiedlung, für die der neue Senat eine „Modullösung“ vorschlägt: Mit Bundes- und Lottomitteln kauft die Regierung für die GEMÜMA ein Stück Gewerbefläche in Weyhe, baut für die FIMA auf der zugeschütteten Einfahrt des Hemelinger Tunnels ein Hochhaus in Fischform, bringt die BLUMA im alten Postamt 5 am Bahnhof unter und reißt für die FLEIMA die Messehallen auf der Bürgerweide ab. Dazu Bernt Schulte, Senator für Baggern und Schaufeln: „Das sorgt für bessere Sichtachsen.“ Zu den Kosten in Höhe von 1,3 Milliarden Mark Hartmut Perschau, Senator für Geld und Zinsen: „Bekommen wir alles mit dem Lohnsteuersplitting in den Grenzen von 69 zurück.“

Burkhard Straßmann,

Christoph Köster

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