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Der Fortschritt ist eine Schnecke

Vor 50 Jahren bewirkte die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ eine „kopernikanische Wende im Völkerrecht“  ■ Von Andreas Zumach

Markiert die Verabschiedung der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ (AEM) durch die UNO- Generalversammlung am 10. Dezember 1948 eine „kopernikanische Wende im Völkerrecht? Diese Frage wird in dem äußerst lesenswerten Buch „Menschenrechte im Umbruch“ diskutiert, das amnesty international anläßlich des heutigen 50. Jahrestages veröffentlicht hat. Der 81jährige französische Ex-Diplomat Stéphane Hessel bejaht die Frage trotz aller kritischen Rückschau auf das letzte halbe Jahrhundert ohne Einschränkung. Für Hessel, den letzten noch lebenden Teilnehmer an den anderthalbjährigen Verhandlungen der UNO-Menschenrechtskommission über den Text der AEM, war die Proklamation dieses Dokuments „die wichtigste Erneuerung, durch die sich die Vereinten Nationen nicht nur vom 1919 gegründeten Völkerbund, sondern auch von allen früheren Formen internationaler Zusammenarbeit unterscheiden“. Nach Gestapo-Haft und Folter nur knapp seiner Ermordung im Konzentrationslager Buchenwald entronnen, war Hessel – wie viele andere Teilnehmer der AEM-Beratungen – entscheidend geprägt durch Faschismus, Holocaust und Zweiten Weltkrieg und „die tiefe Menschenverachtung während der zwölf Schreckensjahre des Dritten Reichs“. Diese Verachtung hatte es nach Einschätzung Hessels „während des 1. Weltkrieges nicht gegeben“.

„Wir befanden uns an der Nahtstelle zweier Artikel der UNO- Charta von 1945, die es miteinander zu vereinbaren galt“, schreibt Hessel in seinen Erinnerungen, „Der Tanz mit dem Jahrhundert“. Nach Artikel1 ist die „Verteidigung und Förderung der Menschenrechte und Grundfreiheiten ohne jegliche Diskriminierung“ zentrale Aufgabe der UNO; Artikel3 erklärt hingegen die „Souveränität der Staaten“ zum obersten Gebot und untersagt der UNO- Organisation „jegliche Einmischung in vornehmlich innere Angelegenheiten“ ihrer Mitglieder. Doch die Ambition, die Generalversammlung zur Verabschiedung eines juristisch verbindlichen Dokuments zu bewegen, das die Staaten zur „Wahrung gewisser Rechte verpflichten würde, und so eine ausreichend große Bresche in den Schutzwall staatlicher Souveränität zu schlagen, um überall die Demokratie zu sichern, den Totalitarismus zu verbannen, die Grundrechte zu garantieren und die Ressourcen gerecht auf alle Bevölkerungsschichten zu verteilen“ –, diese Ambition Hessels und seiner Kollegen erfüllte sich nicht. Die Generalversammlung verabschiedete die von ihnen formulierten 30 Menschenrechtsartikel lediglich in Form einer völkerrechtlich unverbindlichen Erklärung.

Dennoch wurde die AEM zur Inspiration und Grundlage für inzwischen rund 60 völkerrechtlich verbindliche Vereinbarungen zum Menschenrechtsschutz. Darunter als wichtigste die beiden 1966 von der Generalversammlung verabschiedeten Pakte über die zivilen und bürgerlichen Rechte (Zivilpakt) sowie die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte (Sozialpakt). Zur Umsetzung all dieser Vereinbarungen und zur Überwachung ihrer Einhaltung durch die Staaten sowie zur Entwicklung weiterer Standards und Normen wurde im Rahmen der UNO ein umfangreiches System von Verfahren, Mechanismen und Institutionen errichtet. Kern dieses Systems sind die heute aus 53 Mitgliedsländern bestehende Menschenrechtskommission und das derzeit mit der Irin Mary Robinson besetzte UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte. Doch wichtigste und unerläßliche Voraussetzung für einen effektiven Menschenrechtsschutz ist das inzwischen sehr breite Geflecht von regierungsunabhängigen Organisationen in allen Regionen dieser Erde, unter denen amnesty international und Human Rights Watch nur die beiden bekanntesten, weil größten sind. Ohne die Arbeit und den Druck dieser Organisationen blieben viele Menschenrechtsverletzungen unentdeckt und unbeachtet und wären zahlreiche zwischenstaatliche Übereinkommen und institutionelle Fortschritte der letzten 50 Jahre nicht zustande gekommen.

Doch trotz aller Vereinbarungen, Institutionen und Aktivitäten sind die Versprechungen der AEM 50 Jahre nach ihrer Verabschiedung für die Mehrheit der heute knapp sechs Milliarden Menschen noch längst nicht Wirklichkeit geworden. Wobei Frauen und Kinder von allen Formen von Menschenrechtsverletzungen ungleich stärker betroffen sind als Männer. In zwei Dritteln der UNO-Staaten werden Menschen weiterhin gefoltert oder mißhandelt. Fast die Hälfte aller Regierungen inhaftiert gewaltfreie politische Oppositionelle. In einem Drittel aller Staaten werden Menschen weiterhin Opfer politischer Morde durch Militär oder „Sicherheitskräfte“. Selbst Völkermord und andere schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind in jüngster Zeit wieder begangen worden – etwa im ehemaligen Jugoslawien, in Burundi, Ruanda oder der Demokratischen Republik Kongo. Auch in den Staaten Westeuropas wurden in den letzten Jahren menschenrechtliche Normen, etwa im Umgang mit Flüchtlingen und Asylbewerbern, massiv abgebaut. Und der oft mit großem moralischem Pathos vorgetragene Anspruch der USA als Hüter der weltweiten Menschenrechte steht, wie eine im Oktober veröffentlichte Untersuchung von amnesty international (ai) belegt, in deutlichem Widerspruch zur politischen Praxis der letzten verbliebenen Großmacht – sowohl international wie innerhalb der eigenen Grenzen. Für UNO-Hochkommissarin Robinson wie für ai und ähnliche Organisationen ist der heutige Jahrestag daher „überhaupt kein Grund zum Feiern“.

Stephane Hessel hält es „für das schwerste Versäumnis der letzten 50 Jahre und das größte Versagen der nördlichen Industriestaaten“, daß die in der AEM und im Sozialpakt von 1966 formulierten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte bis heute nicht ebenso in verbindliche, einklagbare Verträge und Konventionen umgesetzt wurden wie die bürgerlichen und politischen Rechte. Wenn entsprechenden, immer drängenderen Forderungen vor allem aus ärmeren Staaten des Südens nicht bald Rechnung getragen wird, dürfte der auf der Wiener Welt- Menschenrechtskonferenz von 1993 nur unter großen Mühen erzielte Konsens der 186 Teilnehmerstaaten über die „Unteilbarkeit und universelle Gültigkeit“ aller in den 30 Artikeln der AEM proklamierten Rechte bald zerbrechen.

„Menschenrechte im Umbruch – 50 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“. Hrsg. von amnesty international, Luchterhand Verlag, Neuwied 1998

Stéphane Hessel: „Tanz mit dem Jahrhundert – Erinnerungen“. Arche-Verlag Zürich/Hamburg 1998, 372 Seiten, 45 DM

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