■ Nebensachen aus Madrid: Trauben sind an Silvester nicht immer gesund
Geschafft. Die Silvesternacht wäre wieder einmal heil überstanden. Nein, das Problem war nicht etwa der übermäßige Konsum von Wein, Cognac oder Sekt, sondern deren Rohstoff, die Trauben. Genauer gesagt zwölf davon. Die nämlich gilt es in Spanien Punkt Mitternacht zu verspeisen, zu jedem Glockenschlag eine.
Diese Art, das Glück für die kommenden zwölf Monate heraufzubeschwören, ist nicht ganz ungefährlich. Das Traubenschlingen könnte schnell zu einem Stau von Haut und Kernen im Rachenraum führen. Das Ritual zu Ehren von Fortuna müßte laut prustend abgebrochen werden. Das kommenden Jahr wäre somit zum Scheitern verurteilt. Damit es nicht soweit kommt, sorgen viele silvestererfahrene Spanier vor. Fein säuberlich wird Traube für Traube geschält, allzu große Kerne entfernt. Der Rest sollte selbst für ungeübte Rachen kein Problem mehr sein.
Den Rhythmus zum Traubenschlucken gibt die Uhr auf dem Turm des Gebäudes der Madrider Regionalregierung am Platz Puerta de Sol vor. Wer im Lande weilt und nicht vor Ort sein kann, schaltet dazu das erste Programm des Fernsehers ein. Wer weit von den Seinen feiern muß, dem sei der spanische Weltsender auf Kurzwelle empfohlen.
Um nationale Katastrophen schon in den ersten paar Sekunden des neuen Jahres auszuschließen, manipuliert Uhrmacher Jesús López-Terradas jedes Jahr kurz vor Mitternacht das altehrwürdige Räderwerk der bekanntesten Uhr Spaniens. Die Schläge werden so verlangsamt. „36 Sekunden vom ersten bis zum letzten, das sollte ausreichen, damit jeder die Trauben in aller Ruhe aufessen kann“, meint er.
Nur einmal unterließ er den wichtigen Eingriff: Silvester 1996. Die Uhr war gerade renoviert worden. López-Terradas hatte Angst, durch das Einhängen seines selbstgebauten Verzögerungsgewichtes den Zahnrädern Schaden zuzufügen. 18 Sekunden und der Zauber war vorbei. Ganz Spanien saß entsetzt vor einem halbvollen Traubenschälchen. Einige Verwegene zogen am Neujahrstag, zwölf Uhr mittags, zur Puerta de Sol, um den Rest einzunehmen. Ob Fortuna das erlaubt, sei dahingestellt. Einem jedenfalls zürnte die Göttin: Dem Chef der Landesregierung von Madrid, Ruíz Gallardón. Der sonst recht beliebte Politiker konnte sich nach dem Silvesterdesaster nur knapp vor einem Rücktritt retten. Das Jahr verlief dann doch noch ganz erfolgreich, wie der wirtschaftliche Aufschwung bewies.
Doch auch wer die Früchte ordnungsgemäß einnimmt, kann vom allen guten Geistern verlassen werden. Das mußte diese Silvestern eine junge Frau erfahren. Sie konnte nach Mitternacht nur mit Hilfe der Madrider Feuerwehr aus dem Kofferraum ihres neuen Autos befreit werden, wohin sie sich zum Traubenschlucken zurückgezogen hatte.
Weniger Glück hatte eine Madrider Hausfrau, deren Mann Silvester 1995 nach dem letzten Glockenschlag den Notarzt verständigen mußte. Zu spät. Als die Sanitäter um 0:30 Uhr eintrafen, atmete die 58jährige bereits nicht mehr. Die letzte Traube war ihr im Halse stecken geblieben. Reiner Wandler
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