: Schwarz vor den Augen
■ Surreal per Holz-Tech-Kamera: Georg Winter und Richard Oelze in Esslingen
Die Villa Merkel war in den letzten Jahren mehrfach Schauplatz von Kunstinszenierungen, die durch eine veränderte Raumwahrnehmung im Gedächtnis haftengeblieben sind. Jetzt dient der klassizistische Bau, in dem die Galerie der Stadt Esslingen untergebracht ist, dem Künstler Georg Winter als Drehort: Eine Filmkamera auf Schienen, Lampen, Stative, schweres und leichtes Gerät, dazu ein Tisch mit Stühlen verwandeln den Lichthof in einen Arbeitsraum. An den Wänden stapeln sich Verpackungen mit der Aufschrift „Ukiyo Camera Systems“, kurz UCS.
Georg Winter, der seit der diesjährigen Esslinger Fototriennale ein einjähriges „Entwicklungsbüro für Kameratechnik und Neue Medien“ in der Villa unterhält, hat seinen Aktionsradius auf beide Stockwerke ausgedehnt. Neue Erkenntnisse zu „Emergenz und Bildorganisation“ erhofft sich der Künstler durch Mitwirkung der Ausstellungsbesucher (Vorkenntnisse über Emergenz sind dabei eher hinderlich). Doch Winter ist nicht allein in der Villa; bei seiner „Arbeit an den Phänomenen“, so der Titel des zu drehenden Films, schaut der Surrealist Richard Oelze (1900–1980) ihm über die Schulter.
Wer schon einmal Bekanntschaft mit der Kameratechnik UCS gemacht hat, hat das Stadium enttäuschter Erwartung hinter sich. Er hat gelernt, daß sich hinter dem wohlkingenden japanischen Firmennamen (Ukiyo-e bedeutet „fließende, vergängliche Welt“) eine Hardware aus Holz verbirgt, mit der sich keine Bilder machen läßt. „Kamera ist, was wir dafür, davor, davon halten“ – mit diesem Spruch erklärt Winter das Bildermachen mit handelsüblichen Kameras als Ausdruck selbstverschuldeter Unmündigkeit.
In der Ausstellung hat jedes Verhalten eines Users von UCS- Geräten doppelten Beobachtungswert: als Selbstwahrnehmung und als Beitrag für Winters „Grundlagenforschung“. Das Hantieren mit den Exponaten ist ausdrücklich geboten. Und wer hätte nicht Lust, mit den fahrbaren Geräten herumzukutschieren und seine Hände ins Innere eines „Entwicklungszeltes“ zu graben, um zu ertasten, was hier nicht verraten werden soll.
Georg Winter versteht sich als integraler Bestandteil der „Dreharbeiten“. Er produziert hölzerne Aufnahmegeräte als materielle Basis für „Plastik als Handlungsform“. Ist das Bildermachen mit High-Tech-Kameras an ihre vorschriftsmäßige Handhabung gebunden, so verlangt das Bildermachen mit UCS-Kameras eine Leistung im Sinne der „Selbstorganisation“. Was Winter unter determinierter Bildwahrnehmung versteht, veranschaulicht eine Werkgruppe monochrom schwarzer Leinwandbilder: Jedem Bild ist eine schwarze Liege-, Sitz- oder Stehvorrichtung für den Betrachter zugeordnet, die das Bildformat exakt wiederholt.
Winters Produkte für interaktives Handeln besitzen werbewirksame Anschaulichkeit und eine gute Portion Ironie. Eine andere Sache ist es mit dem verbalen Teil seiner Arbeit. Um die intellektuelle Vernetzung seiner „Pilotprojekte“ besorgt, hält der Künstler Vorträge, die mit einem quasiwissenschaftlichen Vokabular und dem Zitieren diverser Autoritäten (von Spinoza bis Niklas Luhmann) auch interessierte Abnehmer seiner plastisch realisierten Ideen in lähmendes Nichtverstehen stürzen.
Wer seine Zweifel hat, ob Winters Neuauflage einer „fröhlichen Wissenschaft“ als Heilmittel zur Bekämpfung konditionierter Wahrnehmung taugt, kann an Richard Oelzes knapp dreißig Bleistift- und Kreidezeichnungen wenigstens die eigenen Fähigkeiten in Sachen Nahsicht erproben.
Das 1936 in Paris entstandene berühmte Bild „Erwartung“, hier in einer Studie, zeigt eine Gruppe Menschen in einer nächtlichen Landschaft. Mit einer Ausnahme kehren alle dem Betrachter den Rücken zu. Ein scharfes Bühnenlicht modelliert Mäntel und Hüte. Die Physiognomien, die Aufschluß über die Art der Erwartung geben könnten, bleiben im Dunkeln. Die Natur selbst ist hier Ausdruck eines „physiognomischen Sehens“.
Das Innen im Außen sehen
Menschen und Dinge erscheinen nicht in ihrer gegenständlichen Unterscheidbarkeit und Abgegrenztheit, sondern unter dem Aspekt eines unabgeschlossenen Werdens. Das Ziel solcher Metamorphosen in Landschaften, Mythen und märchenhaften Szenerien sieht Oelze in der Wiedergabe der „Stimmung, die gegenwärtig über den Dingen liegt“. Seine Zeichnungen faszinieren durch die äußerst präzise Beschreibung einer nicht sichtbaren Wirklichkeit. Renate Wiehager begründet ihre Gegenüberstellung von Winter und Oelze damit, daß beide Künstler unsere Aufmerksamkeit auf die Wirklichkeit der inneren Bilder lenken. Den meisten Besuchern dürfte es allerdings schwerfallen, hinter den extrem unterschiedlichen bildnerischen Praktiken überhaupt eine vergleichbare Intention zu erkennen. Gabriele Hoffmann
Bis 17.1., Villa Merkel, Esslingen
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