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Das jähe Ende des Traumes

American Pie: Michael Jordan will nicht mehr Basketball spielen und vertieft die Krise der NBA, die nach langem Arbeitskampf dringend einen Wundertäter braucht  ■ Von Thomas Winkler

I went down to the sacred store

Die ganze Welt trauert. Michael Jordan wird nach Berichten diverser US-Medien heute offiziell seinen Rücktritt als Basketballer erklären. Die ganze Welt? Nein, neben den Reliquiensammlern und -händlern, deren gehortete Bälle, Schuhe, Autogramme und Trading Cards nun unweigerlich im Preis steigen werden, gibt es immerhin zwei Menschen in Chicago, die endlich tun dürfen, was sie schon länger wollten. Jerry Reinsdorf, der Besitzer der Chicago Bulls, der sich nicht zu Jordans Rücktritt äußern wollte, muß sich nicht mehr moralisch verpflichtet fühlen, seinem Star für eine weitere Saison 30 und ein paar zerquetschte Millionen Dollar zu zahlen, und Manager Jerry Krause kann sich endlich an den Neuaufbau der Bulls machen. Das hatte er schon seit Jahren vor, wurde durch den jährlich verschobenen Jordan-Rücktritt aber immer wieder daran gehindert.

Nun wird Krause versuchen, um Toni Kukoc ein neues Team zu bauen. Der Kroate ist mit 30 Jahren noch der jüngste der Bulls- Stars, und vor allem der einzige mit einem gültigem Vertrag. Der die letzten Jahre dramatisch unterbezahlte Scottie Pippen und Dennis Rodman werden sich ebenso andere Klubs suchen müssen wie die Bankspieler Steve Kerr, Jud Buechler oder Bill Wennington. Insgesamt haben die Bulls momentan nur vier Spieler für die kommende Saison unter Vertrag.

Beim Rest der Liga allerdings hat die Mitteilung vom bevorstehenden Rücktritt des besten Basketballspielers aller Zeiten für großes Wehklagen gesorgt. Erst vor wenigen Tagen glaubte die NBA, den GAU abgewendet zu haben, als man die Aussperrung gerade noch rechtzeitig beendete, um wenigstens eine amputierte Saison zustande zu bringen. Aber wohl schon direkt nach der Einigung zwischen Klubbesitzern und Spielergewerkschaft schwante NBA- Chef David Stern Böses, als er verkündete: „Es ist weder höflich noch angemessen für einen Liga- Vorsitzenden zu betteln, aber trotzdem: Michael, bitte komm zurück.“

Nun kommt der Mann, der sechs Titel gewann, fünfmal zum wertvollsten Spieler der Liga gewählt wurde, zehnmal der erfolgreichste Schütze war und während seiner Karriere einen Schnitt von 31,5 Punkten pro Spiel erzielte, nicht zurück, und die Liga hat ein Problem. Nichts wäre besser geeignet gewesen, dem Produkt NBA verlorenen Kredit zurückzubringen, als eine Abschiedstournee von Jordan und Co. Schon im letzten Jahr war jede Halle, in der die Bulls auftauchten, Monate vorher ausverkauft, und die Gäste aus Chicago wurden meist frenetischer gefeiert als die Heimmannschaft. Nach Berechnungen des Magazins Fortune hat Jordan der NBA seit 1984 mehr als zehn Milliarden Dollar eingebracht.

Zwar war die öffentliche Meinung über die NBA, ihre verwöhnten Spitzenverdiener und raffgierigen Klubbesitzer noch nie so schlecht wie momentan, aber Jerry Colangelo, Besitzer der Phoenix Suns, ist trotzdem guter Dinge: „Es gibt immer Zyklen, es geht rauf und runter. Es gab immer Bedenken, wie man Stars ersetzen sollte, aber Gott sei dank gab es immer neue Spieler, die die Lücken ausfüllten.“

Im nächsten Monat wird Michael Jordan 36 Jahre alt, und wäre er nicht zurückgetreten, hätten wie vor jeder Saison die Spekulationen eingesetzt, ob er nicht zu alt und zu langsam geworden ist. Schon in der letzten Saison wirkten die Bulls manchmal nicht allzu souverän, aber es war wieder einmal Jordan, der vor sechs Monaten im sechsten Final-Spiel gegen Utah Jazz die Meisterschaft entschied. Zum letzten Mal stahl er den Ball, zum letzten Mal hing er scheinbar einen Tick länger als sein Gegenspieler in der Luft, zum letzten Mal verließ der Ball seine Hand und senkte sich nach einer perfekten Flugbahn durch den Korb, zum letzten Mal hatte Jordan ein Spiel in den letzten Sekunden im Alleingang gewonnen. „Mit seinem letzten Wurf hat er eine Meisterschaft gewonnen“, sagte sein Freund Charles Barkley. „Was will man mehr? Das ist der Traum eines jeden Spielers.“ Es war ein traumhafter, ein würdiger Abschied.

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