: Im Zeitraffer über die Wüstenlandschaft
■ In „Blown Away“ von Jo Fabian wird es zwischen Tanz- und Textsystem verflixt kompliziert
Jo Fabian ist ein Schriftbesessener. Das hat sich schon in zwei Produktionen des vergangenen Jahres gezeigt. In der „Krähe“ rauschten Schriftzeichen, die von alten Runen bis zum Computercode eine Evolutionsgeschichte des Geschriebenen abbildeten, in unlesbarer Geschwindigkeit über die Projektionswand hinter der Sängerin. In „Perlimpin – House of Lorca II“ schrieb der Regisseur Dialogsätze über die Szenen, bis in der Wiederholung und Verlangsamung die Zeit selbst zum Stillstand gekommen schien. Text war in beiden Fällen weniger Basis einer Geschichte, als vielmehr eine Zeichenmenge, die der Aufführung Zeitmaß und Strukturen vorgab.
In dem Tanzstück „Blown Away“, das am Wochenende im Theater am Halleschen Ufer Premiere hatte, wird die Beziehung zwischen Text und Tanz zugleich verflixt kompliziert und ganz einfach. Denn Fabian fährt einen mächtigen theoretischen Apparat auf, der sich am Ende als überflüssig erweist. Der Besucher erhält nicht nur ein Programmheft, das in zehn Kapiteln über Tanzschriften und selbstbezogene Systeme informiert, sondern zudem ein Kartenset, um anhand von eingeblendeten Symbolen die vertanzten Sätze mitlesen zu können.
Doch schon die anfangs eingeblendete Gebrauchsanweisung enthält den entscheidenden Hinweis „Je mehr Inhalt sie erlangen, desto unvollständiger wird ihre Wahrnehmung.“ So schiebt Fabian die Verantwortung dem Betrachter zu. Wählt man die Seite der Wahrnehmung, sitzt man bald da wie in einem Fremdsprachenkurs, wo man zwar keine einzige Vokabel lernt, sich dafür aber in die Anmut der Lehrerin verliebt.
Analog der begrenzten Buchstabenmenge im Alphabet kommt die Choreographie mit einem reduzierten Vokabular aus, das von Shila Anaraki, Veronique Dubin, Sonja Elstermann und Paula E. Paul in wunderbarer Präzision getanzt wird. Zu erleben, wie die gleiche Geste, wie das Stampfen eines Fußes, das Auffächern der Finger oder die Verschiebung der Achse je nach Tempo und Betonung eine ganz andere Qualität erhält, macht die Spannung des Tanzes aus. Im unendlich verlangsamten Solo kann so zu einem ununterbrochenen Fluß von geradezu epischer Kraft werden, was zuvor in der Gruppe synchron und gestochen scharf getanzt, mehr von mathematischer Programmatik schien. Irgendwann ahnt man den Flamenco als Ursprung der Gesten, aber mit seinen Leidenschaften hat die aus ihm generierte Tanzgrammatik so wenig zu tun, wie eine taz- Zeitungsseite mit dem Germanischen. So erfährt man als sinnlichen Diskurs, wie die Bewegungszeichen, nicht anders als in der Sprache, erst im Kontext ihr Potential zur Differenzierung entfalten.
Die Musik von Marc Bolan, die mit minimalistischen Tonschlaufen und Splittern von T.Rex-Liedern arbeitet, und die eingeblendeten Bilder verstärken die Manipulation der Zeit- und Raumwahrnehmung. Wolken, Sonne und Mond rasen im Zeitraffer über eine Wüstenlandschaft, während die Tänzerinnen in fast schmerzhafter Zerdehnung der Bewegung die Drehung der Erde selbst anzuhalten scheinen.
Versucht man am Ende, auf den Programmkarten den Buchstabensinn des Getanzten nachzulesen, stößt man auf Beschreibungen der Situtation des Betrachtens oder der Strukturierung der Zeit im Tanz. Dann hat sich das System wieder geschlossen und entläßt den Zuschauer mit einem hübschen Paradox: Texte sind tanzbar. Lesbar sind sie nicht. Sinn macht es dennoch. Katrin Bettina Müller
„Blown Away“. Theater am Halleschen Ufer, 20.–24. 1., 21 Uhr
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