■ Wenn der Eurocity Varsovia nach Berlin zur Arche Noah wird, sehen die Tiere alle gleich aus: Mit einem zugesteckten Hundert-Zloty-Schein
Warszawa Centralna hat den Charme einer deutsch-deutschen Grenzanlage. Wer hier oft verkehrt, hat sich abgefunden, zieht seine Bahnen über die glitschigkalten Fliesen des Bahnsteigs und vermeidet, wenn's geht, die anderen Reisenden anzusehen: Im Keller des Warschauer Hauptbahnhofs sieht jeder krank aus. Da nutzt kein Bräunungsstudio, keine Karottencreme. Dämmeriges Neonlicht taucht die Wartenden in fahles Gelb, als habe sich der Nebel, der die polnische Hauptstadt seit zwei Tagen nicht aufwachen läßt, bis tief in die unterirdischen Gewölbe gefressen.
Der Eurocity Varsovia nach Berlin ist an diesem Januartag eine Art Arche Noah, nur sehen die Tiere auf dem Bahnsteig alle gleich aus: Trenchcoat, braune Lederschuhe, Notebook im Gepäck. Englisch ist Hauptverkehrssprache am Gleis3. Über hundert vor Nervosität schwitzende Männer, deren Flüge wegen Nebels gestrichen wurden, haben sich hier kurz vor halb fünf eingefunden – abgehetzt und ohne Fahrschein. Der Abendzug nach Berlin ist ihre letzte Hoffnung, dem lukrativen, ansonsten aber bedrohlichen Osten doch noch zu entkommen. Vergeblich hält Mister Brennan aus London Ausschau nach der Stewardeß. Stattdessen stößt er auf einen blassen, stoisch dreinblickenden Schaffner, der die Tür zum Wagen 266 blockiert. „Kann ich auch ohne Bordkarte einsteigen?“ bittet er verzweifelt den Herrn Konduktor. „Nur mit Reservierung, bitte“, beißt der zurück. Und wartet gelassen auf mögliche Angebote des Briten.
Sechs Stunden Fahrt. In der Zeit ist einer wie Herr Preetz aus Frankfurt/Main normalerweise in New York oder New Delhi. Und er hat nicht mal eine Reservierung. Ratlos steht der 40jährige Anwalt, Geschäftsführer einer in Warschau operierenden deutschen Kanzlei, wie die anderen serviceverwöhnten Herren im Gang des Großraumwaggons. Immerhin ein Wagen der Deutschen Bahn, das beruhigt halbwegs. Einen Hundert- Zloty-Schein für die Fahrt in der ersten Klasse hat ihm seine polnische Sekretärin noch schnell in die Hand gedrückt. „Und was mach' ich, wenn da alles besetzt ist“, hat Herr Preetz sie noch gefragt. Antwort: „Steigen Sie nur ein, ich rede polnisch mit dem Schaffner.“
Kaum hat der überbuchte Eurocity die Katakomben des Bahnhofs verlassen, kommt Bewegung in die Hundertschaft blinder Passagiere. Binnen Sekunden klebt an jedem rechten Ohr ein Handy, ob im Sitzen oder Stehen. Schon zur Selbstvergewisserung. „Nein Maggi, ich habe keinen Platz in der Business class. Es ging kein einziger Flug mehr. Ich stehe hier im Zug nach Berlin. Besorg' mir dort für die Nacht ein Hotel und für morgen den ersten Flug nach London“, dirigiert Mister Brennan, jetzt wieder ganz Herr der Lage, seine Sekretärin daheim.
Sechs Stunden Fahrt – irgendwo klingelt's immer. Am häufigsten ertönt die elektronische Version der Marseillaise: Im Wagen 266 wird „kommuniziert“. Eine Gruppe junger Franzosen hat den Familienplatz mit Netzanschluß belegt. Reserviert zwar ab Poznań, aber bis dahin sind ja noch drei Stunden Zeit. Wie auf Kommando packen die vier ihre Laptops samt Modem und Handy auf den Tisch und gehen online. „Die Computermesse war ein voller Erfolg, näheres mündlich, wenn ich wieder da bin“, mailt einer in die Firma — „wann immer das sein wird.“
„Behalten Sie den Rest, aber seien Sie doch so nett und schicken uns den Bordservice vorbei“, bittet Mister Brennan den Schaffner. In der Not kommt man sich näher. Sechs Stunden Fahrt, da können ein paar Drinks nicht schaden. „Ach Maggi,“ Mister Brennan sitzt inzwischen und hat wieder London an der Strippe, „sagen Sie doch in Berlin den Leuten vom Hotel Bescheid, daß sie mich um 10.46 pie emm am Bahnhof abholen.“
Am Grenzbahnhof Rzepin, wo die polnische Lok abgekoppelt wird und die Grenzer zusteigen, wird es hektisch am französischen Tisch. Der Strom ist seit einigen Minuten abgestellt. Schluß mit Internet. Wo Yves doch gerade die Abendflüge ab Frankfurt am Bildschirm hatte. „Wir brauchen nicht bis Berlin in diesem Zug zu bleiben“, hält er seinen Kollegen vor. „Gleich sind wir in Frankfurt.“ Herr Preetz will dazu unbedingt eine Erklärung abgeben, aber die Flasche Zubrówka, die er inzwischen mit Mister Brennan vernichtet hat, behindert die Kommunikation. „Hier steht's doch im Fahrplan: In 20 Minuten erreichen wir Frankfurt, immerhin einer der größten Flughäfen der Welt. Da kriegen wir bestimmt noch einen Platz nach Paris.“ Henk Raijer
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