"Senat will ernsthaft nichts ändern"

■ Der Mobilitäts- und Verkehrsforscher Markus Hesse zieht eine düstere Bilanz der Verkehrspolitik des Berliner Senats. Anstatt ständig die Kapazitäten zu steigern, müsse mehr gestaltet werden

taz: Welches Verkehrsmittel benutzen Sie am liebsten, wenn Sie in Berlin unterwegs sind?

Markus Hesse: Das Fahrrad, wenn es nicht regnet. Denn Fahrrad fahren finde ich angenehm: Es ist schnell, praktisch, und man kommt in der Stadt überall hin.

Sie beschäftigen sich wissenschaftlich mit Fragen der Mobilität. Was bedeutet Mobilität für Sie? Keine Staus auf den Straßen und kurze Wartezeiten an der Bushaltestelle?

Zunächst heißt es, beweglich zu sein; also möglichst viele Dinge in möglichst kurzer Zeit erreichen zu können. Das ist vom Verkehrsmittel unabhängig.

Berlin ist eine sehr autofreundliche Stadt. Sollte das so bleiben, oder müßte die Verkehrspolitik der Großen Koalition in eine andere Richtung steuern?

Man hat schon das Gefühl, daß es nicht so weitergehen kann wie bisher. Ich habe jedoch nicht den Eindruck, daß die Politik ernsthaft beabsichtigt, an den Entwicklungen grundsätzlich etwas zu ändern. Meiner Meinung nach wäre das aber notwendig.

Was wären die wichtigsten Punkte, die geändert werden müßten?

Es gibt zwei Kategorien von Problemen. Zum einen die Hausaufgaben: Dinge, die schon längst beschlossen, aber nicht umgesetzt sind. Dazu gehört, den ÖPNV (öffentlicher Personennahverkehr) zu verbessern, den Fahrradverkehr zu fördern, Fußgänger- und Radverkehr vor Verkehrsunfällen zu schützen und natürlich auch den Autoverkehr einzuschränken – weil er unverträglich hohe Belastungen mit sich bringt. Diese Themen werden in Berlin viel zu strittig angesehen, um bald Lösungen zu finden.

Und die zweite Kategorie?

Dabei geht es um die Fragen, die dahinterstecken. In vielen Städten wird versucht, den Verkehr einzuschränken, was aber nicht so ohne weiteres klappt. Da muß man sich mehr einfallen lassen und genauer hingucken: Was sind eigentlich die Mobilitätsbedürfnisse der Menschen, was sind Verkehrsanforderungen der Unternehmen und was sind zukünftige Trends? Sich damit auseinanderzusetzen wäre eine wichtige zukunftsorientierte Aufgabe. Darüber darf man die Hausaufgaben aber nicht vergessen.

In Berlin hat eine ökologisch bedenkliche Entwicklung eingesetzt. Die Berliner ziehen verstärkt ins Umland, so daß immer längere Pendlerwege entstehen. Was kann man dagegen tun?

Den Fakt als solchen kann man nicht verhindern. Das ist in allen anderen Ballungsräumen auch so gewesen. Berlin hat aber den Vorteil, daß das Ganze quasi mit ,Ansage‘ passiert. Man weiß, daß es passiert, und kann sich darauf einstellen. Aber es ist nicht einfach entgegenzusteuern, weil die Leute, die rausziehen, einem ganz typischen Lebensstil-Segment angehören. Sie wollen ein Haus bauen und im Grünen wohnen. In aller Regel haben sie auch schon ein Auto, oder zwei. Für dieses Problem muß man sich gesondert etwas überlegen.

Was zum Beispiel?

Es reicht nicht, irgendwo eine Straßenbahn hinzulegen. Der ÖPNV muß ein öffentlicher Individualverkehr werden. Denn die Leute wohnen so verstreut, daß die Erschließung des Umlands für den klassischen ÖPNV unwirtschaftlich ist. Deshalb muß man zu kleineren Lösungen übergehen, etwa Quartiersbussen oder Anruf-Sammeltaxen. Also Verkehrsmittel, die von der Größe her eher dem motorisiertem Individualverkehr entsprechen, aber eben einen gewissen Grad an Kollektivität haben. Das kann man dann an ein Informationssystem anschließen, das Mobilitätsmanagement ermöglicht.

Etwa Ähnliches plant gerade Verkehrssenator Jürgen Klemann (CDU). Er will in diesem Jahr eine Verkehrsmanagementzentrale einrichten, die alle Verkehrsströme der Stadt erfassen soll. Halten Sie das für eine sinnvolle Investition?

Man muß wissen, vor welchem Hintergrund das passiert. Macht man das, um die Stadt noch aufnahmefähiger für Verkehrsmengen zu machen oder will man auch Verkehr reduzieren. Das ist der entscheidende Punkt. Man kann entweder die Infrastruktur ausbauen und die Verkehrsträger vernetzen oder damit Informations- und Mobilitätsmanagement anbieten. Mein Favorit wäre: regeln statt bauen.

BMW hat gerade ein Institut für Mobilitätsforschung in Berlin eingerichtet. Profitiert Ihrer Erfahrung nach nur die Automobilbranche von solchen Instituten?

Es gibt sicherlich eine umfassende Forschung. Wir haben ja in Berlin schon seit langem das Daimler-Benz-Forschungsinstitut. Dort wird auch nicht nur Produktforschung betrieben. Es könnte sein, daß auch BMW das ganze Verkehrsumfeld und gesellschaftliche Entwicklungen verfolgt. Das wäre im Grundsatz positiv.

Könnte Berlin von der Ansiedlung dieses Instituts profitieren?

Es gibt in Berlin eine sehr verhärtete Interessenstruktur, was den Verkehr angeht. Wenn das Forschungsinstitut auch Themen aufgreift wie die unterschiedlichen Mobilitätsinteressen in der Stadt und sich der Frage öffnet, wie man in dem Punkt weiterkommen kann, anstatt immer wieder die alten Schlachten neu auszufechten, dann wäre das für die Stadt sicher positiv.

Halten Sie Berlin – wie es Klemann gerne betont – für ein Verkehrskompetenzzentrum?

Um Gottes willen. Ich bin sehr dafür, die Reihenfolge einzuhalten. Erst einmal ist das in Angriff zu nehmen, was der Senat beschlossen hat und in anderen Städten schon längst Praxis ist. Dann wäre schon viel gewonnen. Bevor aber auch noch andere vor der Berliner Verkehrspolitik in Ehrfurcht erstarren sollen, müßte noch einiges passieren. Interview: Jutta Wagemann