: Stiefelputzen mit Nachbars Kopf
■ Tanzherbst: Das Het Hans Hof Ensemble in Bremerhaven
„To whom it may concern – In Antwort auf Ihr Schreiben“ – so nennen die vier TänzerInnen vom niederländischen Het Hans Hof Ensemble aus Groningen ihre Produktion, die sie im Rahmen des Bremer Tanzherbstes im Bremerhavener Theater im Fischereihafen (TiF) vorstellten. Drei Männer und eine Frau zeigten ein berührendes, versponnenes Traumspiel, das so streng und klar ist wie die Musik von Johann Sebastian Bach, die sie ihren Szenen zugrunde legen. Ein Spiel in Variationen, das vier Gleichaltrige in einen tristen Kellerraum führt, in den sie durch ein winziges Fenster hereinkriechen, als könnten sie nur hier miteinander existieren. Dort gibt es nichts als ein Regal mit Lebensmitteln, einen Haufen leerer Dosen,einen großen Tisch, an dem sie sich versammeln.
Aber das gemeinsame Essen wird zum zwanghaften Ritual. Eckig, kantig sind ihre Bewegungen, zwei entfalten mit Wucht die weiße Tischdecke, einer zieht sie in seine Richtung, putzt mit einem Zipfel sein Besteck, die Frau öffnet eine Dose, teilt Hering in Tomatensoße aus. Das Essen wird abrupt beendet, obwohl der letzte noch keinen Bissen genommen hat. Danach ist jeder bei sich selbst: Ein Mann strickt, einer hantiert mit einer Säge, die Frau tanzt vor sich hin, einer nutzt den Kopf des Nachbarn zum Stiefelputzen. Schlagartig ist alles vorbei, die Musik von Bach setzt wieder ein. Die erste Variation beginnt, wieder kriechen die vier durchs Kellerfenster in ihre Höhle. Was suchen sie? Miteinander, Wärme, Geborgenheit?
Sie tasten sich im Schatten an der Wand entlang in den Raum hinein, sie fallen in spastische Bewegungen, sie wirken autistisch, und manchmal finden sie sich sekundenlang, wenn alle vier auf den Tisch krabbeln und sich dort verknoten. Ihr Zusammensein im kahlen Raum ist eine Versuchsanordnung mit wenigen Elementen. Da muß nur eine Musiktruhe dazukommen, und schon wird die vorläufige Ordnung durcheinandergewirbelt. Schon wird der Tisch wild hin und her geschoben und endlich gibt es Musik aus der Truhe, zu „Liebesleid und Liebesfreud“ von den Comedian Harmonists. Eine leise, zaghafte Annäherung. Vier, die sich noch nicht gefunden haben und beieinander Halt suchen. Plötzlich fängt einer an zu sprechen. Es sind nur schmutzig-rassistische Witze.
Aber die Tänzer denunzieren ihre Figuren nicht. Trotz aller zerklüfteten Bewegungen lassen sie ihnen ihre eigene Würde. Am Ende steht ein vorsichtiges Hoffnungsbild, wenn einer der Männer auf dem Sägeblatt im melancholischen Wimmerton „Der Mai ist gekommen“ fidelt. Mischa van Dullemen, Klaus Jürgens, Andreas Denk und Andrea Doll haben gemeinsam eine eigene Choreografie entwickelt. Schnelle Tempiwechsel, fließende Bewegungen, klare Linien, so durchsichtig präzise wie die strenge Musik, als wäre das junge Ensemble selber dort, wo ihre Figuren sind: Im Schoß der Gruppe, im Schutz der grauen Höhle, von Zwängen gehalten und im Aufbruch zu zu großen, klassischen Formen, die sich manchmal durch alle mechanischen Bewegungen hindurch abzeichnen. Nicht ohne Witz. Hans Happel
Die Tanzherbst-Aufführungen: Heute, 18 Uhr „tanzwerk“ im Gerhard Marcks-Haus; Susanne Linkes „Es wird schon...“ um 20 Uhr im Schauspielhaus
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