: Moskauer Machtspiele
■ Seltsame Aktionen von und um Boris Jelzin geben zu Spekulationen Anlaß. Alles deutet auf einen baldigen Befreiungsschlag des Präsidenten
Moskau (taz) – Die letzte Woche stand in Moskau unter dem Sternzeichen der Staatsanwaltschaft. Nach dem von Präsident Boris Jelzin erzwungenen Rücktritt Generalstaatsanwalts Skuratow am Dienstag bemühten sich die Rechtsschutzorgane mit noch nie dagewesenen Eifer, ihrem Namen gerecht zu werden.
Hier nur die glänzendsten Erfolge. Während der Marathon- Haussuchung bei der Erdölgesellschaft Sibneft am Dienstag wurden dort Kassetten mit illegal aufgezeichneten Gesprächen der russischen Elite, vermutlich auch der Präsidentenfamilie, gefunden. Am Mittwoch begann man die nationale Fluggesellschaft Aeroflot zu filzen. Gegen Ende der Woche richtete sich die Anklage gegen die Zentralbank Rußlands. Seit 1993 hatte sie sich vor der Verwaltung staatlicher Reserven an Auslandswährungen in Höhe von 50 Milliarden Dollar – darunter auch IWF- Gelder – gedrückt. Sie bezahlte dafür eine Off-shore-Firma auf der Insel Jersey.
Trotz dieser Flut von Sensationen erreichte die Moskauer politische Gerüchteküche ihren Siedepunkt am Donnerstag nachmittag. Der Anlaß: Nach einem Gespräch mit Premierminister Jewgeni Primakow im Sanatorium Barwicha hatte der Präsident kein Nickerchen gemacht, sondern war in den Kreml gefahren. Alle Sender brachten diese Meldung an erster Stelle. Und fügten hinzu: Niemand weiß, was er dort treibt! Der Vorrang, den die Medien dieser Nachricht gaben, verwundert um so mehr, da auch die Abstimmung über den Etat 1999 bevorstand – nicht gerade eine Lappalie im Leben der Nation. Die Duma billigte übrigens gestern den Entwurf.
Und doch ist die Fixierung der russischen Öffentlichkeit auf den Präsidenten verständlich. Ihre leidvolle Erfahrung lehrt: Hinter Sensationen steht gewöhnlich ein heftiger Kampf auf dem Moskauer Olymp. Die Zeitungen strotzten letzte Woche von Meldungen über eine Rivalität zwischen Jelzin und Primakow. Daß der Präsident keine Konkurrenz neben sich duldet, weiß alle Welt. Aber seit Mitte Januar ergriff Premier Primakow politische Initiativen, wie sie vordem nur dem Präsidenten zustanden. Dazu gehört das Projekt eines „Paktes der nationalen Eintracht“, demzufolge für die nächsten anderthalb Jahre Parlament, Regierung und Präsident einander versprechen sollen, ihre Macht gegenseitig nicht anzukratzen.
Die Haussuchungen sprechen dafür, daß Primakow und Jelzin an einem Strang ziehen, um den Ober-Politintriganten und GUS- Generalsekretär Boris Beresowski zu Fall zu bringen. Bei Sibneft und Aeroflot hatte Beresowski bisher dank dicker Aktienbündel das Heft in der Hand. Schon lange wußte die Staatsanwaltschaft, daß der Oligarch die Jelzins bespitzeln ließ. Doch hier beginnen die Fragen. Wenn Beresowski Aktivitäten des Präsidentenclans zwecks Erpressung dokumentierte, mußte er nicht hoffen, daß sie illegal waren? Könnte nicht das beschlagnahmte Material zu einem Trumpf Primakows werden?
Als Favorit ging Beresowski mehrere Jahre lang in der Familie Jelzin ein und aus. Er soll die finanzielle Versorgung der Jelzins sichergestellt haben. Es heißt auch, er habe hinter der Wahl von Jelzin- Schwiegersohn Valeri Okulow zum Aeroflot-Generaldirktor gestanden. Die Staatsanwaltschaft versucht zur Zeit zu beweisen, daß Beresowski ein Drittel der Aeroflot-Jahreseinnahmen in Schweizer Scheinfirmen leitete.
In dem Dreieck Jelzin–Primakow–Beresowski sitzt nicht nur der Finanzmogul in einem spitzen Winkel, sondern auch der Präsident. Die Annahme ist nicht abwegig, daß Jelzin versuchen wird, sich durch Entlassungen Platz zu schaffen. Die als erste Rücktrittskandidaten gehandelten Vizepremiers Juri Masljukow und Gennadi Kulik bezeichneten solche Spekulationen gestern als absurd. Aber in Moskau gilt die Maxime: Glaube kein Gerücht, ehe es nicht öffentlich dementiert wurde! Barbara Kerneck
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