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Die Besetzung von Helgoland

Am 20. Dezember 1950 trägt die Titelseite der damals größten deutschen Boulevardzeitung, der Abendpost, zwei Schlagzeilen: „Deutsch-alliierte Konferenz zur Wiederaufrüstung“ heißt es, und darunter – etwas fetter – „Friedlicher ,Handstreich‘ gegen die Insel Helgoland“. Helgoland war damals, wie das Saarland, noch nicht Teil der neugegründeten Bundesrepublik. Die Briten, die die Insel für sich beanspruchten, nutzten sie als Bombenabwurfplatz. Die Bevölkerung war evakuiert, die Landschaft eine einzige Ruine. Da beschlossen zwei Heidelberger Studenten, angetrieben durch die Debatte um die Wiederbewaffnung Westdeutschlands, Helgoland zu besetzen – als Zeichen für Völkerverständigung, Friedlichkeit und den europäischen Gedanken. Zwei Journalisten der Abendpost waren eingeweiht. In der Nacht vom 19. auf den 20. sollte die Überfahrt sein, Bekanntmachung per Zeitung am Morgen.

Doch der Motor des Kutters springt nicht an. Reparatur unmöglich vor acht. Die Erfolgsmeldung in der Zeitung ist schon gedruckt. Sollten die Briten sofort nachsehen und niemanden finden, wäre die Blamage total. Doch die Briten lesen die Zeitung nicht. Mittags treffen die Studenten mit ihren Berichterstattern auf der Insel ein. Sie hissen drei Flaggen: eine für Europa, eine für Deutschland (schwarz-rot-gold) und eine für Helgoland. Decken – damals Mangelware – haben sie nur je eine, als Übernachtungsmöglichkeit steht nur noch eine Flakturmruine. Sie wollen bleiben, bis die Briten die Bombardierung der Insel abbrechen und die Einwohner zurück auf die Insel lassen. Die Journalisten fahren mit dem Boot zurück. Der Platz auf der Titelseite wird freigehalten, doch um Mitternacht sind sie immer noch nicht in der Redaktion.

Um ein Uhr dann die Nachricht: Auto überschlagen, Insassen im Krankenhaus. Am nächsten Morgen werden die Verletzten befragt. Viel bringen sie nicht heraus, aber die Story ist gut. So beginnt die friedliche Besetzung Helgolands. Sie endet am 3. Januar 1951 und führt tatsächlich zur Eingliederung Helgolands in die Bundesrepublik im März 1952.

Die Beteiligten – bis zum Jahresende waren es bereits sieben Personen – waren nicht nur zukunftsorientierte Demokraten: „Eine schön zusammengewürfelte Gesellschaft ist das hier: zwei Studenten, der eine von der HJ in den Knast gesteckt, der andere ein 1945 vom Nationalsozialismus gründlich bekehrter Jungvolkführer; ein aktiver Antifaschist und Emigrant, national, aber nicht nationalistisch; ein harmloser amerikanischer Student; ein liebenswerter Helgoländer, Marinesoldat und braver Seemann; ein Ex-Offizier und verkappter Nazi; ein tapferer Fähnrich der Marine und zuletzt die finstere Gestalt eines, möglicherweise, SS-Mannes. Aber unser ganzes Land besteht aus diesem durchwachsenen, durchgeschüttelten Mischmasch.“ So beschreibt es René Leudesdorff, einer der beiden Studenten, in seinem Buch über die Besetzung. Ein konzentrierter Querschnitt der westdeutschen Gesellschaft zu Beginn der fünfziger Jahre. Martin Hager

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