Leere Wochenmärkte zu Beginn des Jahres der Katze

■ Getrennte Feiern zum heutigen vietnamesischen Neujahrsfest: VietnamesInnen im Osten gelten denen im Westen als geldgierig, die älteren Landsleute im Westen werden als träge angesehen

Viele Wochenmärkte im Ostteil der Stadt sind diese Woche wie leergefegt. Das liegt nicht etwa an dubiosen Abschiebeaktionen der Innenverwaltung. Die etwa 2.000 vietnamesischen VerkäuferInnen haben sich freigenommen, um ihr traditionelles Neujahrsfest zu feiern. Das heutige Tet-Fest wird von 7.000 VietnamesInnen, 3.000 ChinesInnen und mehreren hundert JapanerInnen und KoreanerInnen begangen. Beginn war der gestrige „Silvesterabend“, Schluß ist am Donnerstag.

Nach dem für große Teile der BuddhistInnen geltenden Mondkalender löst heute das Jahr der Katze das Jahr des Tigers ab. Der Mythologie zufolge wird das kommende Jahr ruhig und harmonisch, ohne allzu erfolgreich zu sein. Mythologische Schriften empfehlen, sich nach dem turbulenten Tigerjahr auszuruhen und sich auf private statt auf berufliche Veränderungen zu konzentrieren. Wer allerdings in einem Jahr der Maus — 1995, 1983, 1971, 1959 usw. — geboren wurde, der sollte sich auch mit privaten Entscheidungen im Katzenjahr zurückhalten.

In der nächsten Woche gibt es offizielle Tet-Fest-Feiern verschiedener Vereine, Bezirksämter und Kirchengemeinden. Neun Jahre nach der Maueröffnung haben die vietnamesischen Gemeinden in beiden Stadthälften jedoch nur sporadisch zueinandergefunden. So begehen sie den Jahresanfang getrennt: Während der Verein der Boat-People „Vietnam-Haus“ die VietnamesInnen aus den Westbezirken wie jedes Jahr in die Mensa der Technischen Universität einlädt, veranstalten in den Ostbezirken mehrere Vereine wie „Reistrommel“, „Bürgerinitiative Hohenschönhausen“ oder „Asiaticus“ eher kleine Feste. In beiden Gemeinden gibt es große Vorurteile. So gelten die VietnamesInnen im Osten denen im Westen als hektisch und allzu geldgierig. Umgekehrt sagen die ehemaligen Vertragsarbeiter ihren an Jahren älteren Landsleuten in den Westbezirken Trägheit und Geschäftsuntüchtigkeit nach. Zu einem „Who's who“ der deutschen Wirtschaft sowie der vietnamesischen Szene hat sich der Neujahrsempfang der vietnamesischen Botschaft und der deutsch-vietnamesischen Gesellschaft etabliert, zu dem in der nächsten Woche rund 800 Gäste im Rathaus Schöneberg erwartet werden. Darunter sind Vertreter fast aller großen Banken, der Großindustrie von Siemens bis Daimler-Benz und viele Kleinfirmen, die mit Vietnam handeln. Die politische Prominenz wird sich in diesem Jahr auf einige Bezirksbürgermeister beschränken. In den Vorjahren hatten regelmäßig Brandenburgs Justizminister Hans Otto Bräutigam, Berlins Innenstaatssekretär Kuno Böse und der PDS-Ehrenvorsitzende Hans Modrow teilgenommen, die in diesem Jahr alle drei aus Termingründen absagen mußten.

Das eigentliche Tet-Fest wird im Kreis der Familie begangen. Der traditionelle vietnamesische Klebreiskuchen wird zubereitet oder gekauft. Räucherstäbchen werden auf den Hausaltaren, die viele Berliner Vietnamesen auf ihren Schrankwänden einrichteten, zum Gedenken an die toten Ahnen angezündet. Den Ahnen legt man auch einen Teller mit fünf verschiedenen Früchten auf den Altar und einen Hahn, der mit Kopf und Krallen gekocht wurde.

Vietnamesen rechnen den Ereignissen in den ersten Tagen eines neuen Jahres einen hohen Symbolwert zu. Arzttermine und Behördengänge werden möglichst vermieden, zu groß ist die Angst vor unangenehmen Überraschungen. Gläubige VietnamesInnen vermeiden es in dieser Woche sogar, sich gegenseitig zu besuchen. Der Mythologie zufolge soll derjenige, der als erster im neuen Jahr die Wohnung eines Vietnamesen betritt, das ganze Jahr über das Schicksal der Familie bestimmen. Deshalb pflegen VietnamesInnen ab heute nicht mehr die Zimmerpflanzen ihrer Landsleute, die das Tet-Fest zu Besuchen in Vietnam nutzen, selbst wenn sie sich bis gestern liebevoll um die Pflanzen gekümmert haben. Oder sie lassen Kindern oder auch ahnungslosen deutschen Nachbarn den Vortritt über die Schwelle. Marina Mai