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Unaufrichtige Bildungsdiskussion –betr.: „Wir brauchen die Schule nicht mehr“ von Reinhard Kahl, taz vom 23. 2. 99

So richtig es ist, daß man Schule angesichts der gravierenden gesellschaftlichen Veränderungen „völlig neu denken“ muß: Mich stößt die Unaufrichtigkeit ab, mit der die Bildungsdiskussion von seiten der Wirtschaft und von seiten der Politik geführt wird.

Geradezu idealtypisch in diesem Zusammenhang ist der in Ihrem Artikel gleich zweimal zitierte Ausspruch von Richard Gaul, Sprecher des BMW-Vorstandes: „Wir brauchen Menschen, die nein sagen können. Selbstwußte Leute sind auf Dauer die einzige Ressource. Alles andere ist Blech, Beton und tote Materie.“ Bravo, Herr Gaul! Nichts dagegen zu sagen! Nur: Ich habe diese Aussage einem Freund vorgelegt, der bei BMW im mittleren Management arbeitet. Der hat sich abgerollt vor Lachen. Das sei das Allerneueste, daß BMW an Menschen interessiert sei, die nein sagen können.

Dieselben Vertreter der Wirtschaft, die in ihren Reden von offenen Schulen, von Teamfähigkeit und kreativen Persönlichkeiten schwärmen, schicken ihre eigenen Kinder auf englische und US-amerikanische Internate, weil da noch Disziplin herrscht und weil man da lernen kann, was Arbeiten heißt.

Dieselben Wissenschaftler, die von selbstorganisiertem Unterricht, von individualisiertem Lernen per Internet dozieren und von der Schule als einem Ort, „wo man viele Frameworks, Beziehungs- und Gedankenmuster kennenlernt und dabei sein eigenes Gerüst bildet“, beklagen die (angeblich) unzureichenden Fähigkeiten der Erstsemester in Mathematik, Rechtschreibung und Fremdsprachen. (Als habe jemals ein Schüler die Grundlagen der Mathematik und Rechtschreibung ausschließlich sozusagen lustbetont durch entdeckendes Lernen sich angeeignet!)

Dieselben Vertreter von Politik und Wirtschaft, denen die Digitalisierung und Rationalisierung von Produktionsprozessen nicht schnell genug gehen kann und die dann irritiert dem Heer von Arbeitslosen gegenüberstehen, das sie mitverantwortlich erst geschaffen haben, dieselben Politiker und Wirtschaftler deuten mit den Fingern auf die Schulen und beklagen lauthals eine zunehmende Tendenz zu Politikverdrossenheit, Perspektivlosigkeit und Gewaltbereitschaft unter den Schülern. Und erwecken obendrein den Eindruck, als könnten derartig grundlegende Herausforderungen an die Schulen durch staatlich verordnete „Qualitätssicherung“ und einen Internetanschluß für jede Schule bewältigt werden.

Ich bin mir bewußt, daß ich hier unzulässig pauschaliere und dem Einzelfall sicherlich unrecht tue. Doch die Frage muß erlaubt sein: Was qualifiziert denn nun eigentlich Politiker und (ausgerechnet!) Vertreter der Wirtschaft dafür, in der Bildungsdiskussion den Mund aufzumachen? Taugt das idealisierte Persönlichkeitsprofil eines BMW-Managers tatsächlich zum Bildungsmaßstab für alle Kinder und Jugendliche Deutschlands (Europas? Der ganzen Welt?)? Kann ich Politikern und vor allem Vertretern der Wirtschaft ein ernsthaftes Interesse an einer Bildung von Kindern und Jugendlichen unterstellen, die auch Phasen der „Unproduktivität“ mit berücksichtigt: Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter, Tod? Und was ist etwa mit dem Recht auf lebenslanges (auch: zweckfreies) Lernen, auf künstlerische Betätigung, ist es hier in guten Händen? Kann ich ernsthaft erwarten, daß Bildungsziele wie das Bewußtsein für den Wert einer intakten Natur, wie die Fähigkeit zur Selbstverwirklichung im Beruf, wie das Streben nach einer friedlicheren und gerechteren Welt nun gerade für Vertreter der Wirtschaft von vorrangiger Bedeutung sein können?

Um noch einmal auf das eingangs erwähnte Zitat von Herrn Gaul zurückzukommen, in dem er feststellt, daß wir (wer übrigens genau?) Menschen brauchen, die nein sagen können: So wichtig es ist, Kinder und Jugendliche so zu erziehen, daß sie den Mut haben, auch nein sagen zu können – gerade auch Menschen wie Herrn Gaul gegenüber: Viel wichtiger und grundlegender scheint mir zu sein, Kindern und Jugendlichen erst einmal die Möglichkeit zu verschaffen, ja sagen zu können! Ja zu einer Welt mit all ihren Herausforderungen, in der aufzuwachsen ein spannender Prozeß ist, der neugierig macht und Mut zum eigenständigen Handeln. Nach 14 Jahren Lehrertätigkeit an einer Waldorfschule habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, daß dieses Ziel grundsätzlich erreichbar ist. Ludwig Hendrix, Krefeld

Die Redaktion behält sich den Abdruck sowie das Kürzen von Briefen vor. Die auf dieser Seite erscheinenden LeserInnenbriefe geben nicht notwendigerweise die Meinung der taz wieder.

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