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Wunderland der zappelnden Beine

Ein riesiger, abgeschrägter weißer Kasten macht sich breit. So manches Roman-Highlight wird geschluckt, dafür aber gibt es eine neue wunderbare Szene — Peter Lund inszenierte „Alice“ an der Neuköllner Oper  ■ Von Miriam Hoffmeyer

Fallen, fallen ohne Ende. Hinab ins abgründige Wunderland, in dem Alice nicht mehr sie selbst ist und Worte und Dinge ständig ihre Gestalt verändern, wo ein häßliches Herzogskind noch ein ganz hübsches Ferkel werden kann und eine verrückte Teeparty ewig dauert. Schon rein technisch gesehen ist es nicht gerade einfach, Lewis Carrolls Kinderbuch-Klassiker auf die Bühne zu bringen. Daß es in der Neuköllner Oper teilweise gelingt, ist vor allem zwei Frauen zu verdanken: der schönen und stimmgewaltigen Lilia Milek als Alice und der Bühnenbildnerin Claudia Doderer, die den kleinen Opernraum wundersam verwandelt hat.

Ein riesiger, weißer, abgeschrägter Kasten macht sich breit, mit asymmetrischen Löchern, durch die man fallen und aus denen man herauskrabbeln kann. Manchmal huscht ein gigantischer Zauberzylinder über die Bühne, während sich die Teegesellschaft auf winzige Stühlchen quetschen muß. Die Zuschauer sitzen drum herum, hoch oben auf luftigen Bänken. In seinem Libretto hat Holger Siemann die Personenvielfalt des Wunderlandes geschickt für vier Sänger zusammengestrichen und sogar eine passable psychodramatische Begründung mitgeliefert: Die tyrannische Spielkarten-Königin (Linda Naumann) ist unter anderem auch Alices Mutter, die männlichen Rollen teilen sich Alices Vater (Tobias Müller- Kopp) und Lewis Carroll (Hartmut Kühn). Manches Roman- Highlight fällt weg, dafür aber ist eine herrliche Szene dazu erfunden, in der Alice Tulpen köpft. Die Blumen machen dagegen mit Megaphon und Getrommel mobil: „Unkraut vergeht nicht! Vasen sind Folter!“

Statt Gewißheit entstehen neue Zweifel

Peter Lunds Inszenierung rückt die Suche nach Identität in den Mittelpunkt. Wenn Alice in den Kaninchenbau stürzt, sind ihre zappelnden Beine noch zu sehen, als schon eine Doppelgängerin den Hals aus dem nächsten Loch reckt. Man fotografiert einander, und statt Gewißheit entstehen neue Zweifel, wer wer ist. Lewis Carroll, der seine kleinen Freundinnen gern halbnackt-kostümiert fotografierte, schwankte sein Leben lang zwischen verschiedenen Identitäten: Der schüchterne Mathematikdozent Charles Lutwidge Dodgson hatte mit dem witzigen Kinderfreund so wenig zu schaffen, daß er die Annahme von Briefen verweigerte, die unter seiner College-Adresse an „Lewis Carroll“ gerichtet waren.

Nun ist die Neuköllner „Alice“ aber eine Oper, und die Musik ist ihr eigentlicher wunder Punkt. Hanno Siepmanns Komposition (für die erste Szene erhielt er den Neuköllner Opernpreis) beginnt vielversprechend: Alices langweiliger Alltag ist in müdes Moll getaucht, der Auftritt des weißen Kaninchens bringt schnellen Rhythmus und schräge Harmonien ins Spiel. Im Wunderland aber regiert dann eine schulmäßige Zwölftontechnik ohne wirkliche expressive Höhepunkte, auch wenn die Piccoloflöte heftig gellt und das Donnerblech mächtig wummert. Zur Auflockerung werden andere Stile zitiert, barockes Rezitativ und romantisches Kunstlied. Trotzdem zieht sich die 90-Minuten-Komposition in die Länge, als hätte der Märzhase den Zuhörern Butter in die Uhren geschmiert.

Weitere Vorstellungen von „Alice“ vom 4. - 6., 11. - 13., 18. - 20. und 25. - 27. März, jeweils um 20 Uhr, Neuköllner Oper, Karl-Marx-Straße 131-133

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