: Vom schönsten Tag zur schönsten Zahl
Gestern begann bei den meisten Standesämtern die Anmeldung für Eheschließungen am 9.9.1999. Heiratswillige kamen zum Teil im Morgengrauen. Nur die Kreuzberger hielten sich zurück. Standesamtsleiter Johst: „Die kommen erst auf den letzten Drücker“ ■ Von Barbara Bollwahn de Paez Casanova
Manche tun es aus Liebe, manche wegen Geld. Die Gründe zum Heiraten sind vielfältig und manchmal unergründlich. Daß sich jedoch Hunderte von Heiratswilligen dazu hinreißen lassen, sich im Minutentakt trauen zu lassen, scheint weder mit dem einen noch mit dem anderen zu tun zu haben. Es geht um eine Zahlenkombination aus fünf Neunen und einer Eins, die gut zu merken ist: der 9.9.1999. Es muß am Zahlenfetischismus oder einem schlechten Gedächtnis für Hochzeitstage liegen, daß der vermeintlich schönste Tag im Leben zur schönsten Zahl im Leben degradiert wird.
Als gestern bei den meisten Standesämtern der Stadt die Erstanmeldung – früher hieß das Aufgebotsbestellung – für diesen Tag begann, erlebte so manch Standesbeamter sein blaues Wunder. In Mitte stand das erste Paar bereits um fünf Uhr in der Frühe vor der Tür, zwei Stunden vor Dienstbeginn. Dabei handelte es sich um ein Paar aus dem oberfränkischen Fürth, das erste von insgesamt 15 an diesem Tag. Normalerweise gibt es in Mitte acht Aufgebote pro Tag.
In Mitte wird im September mit Zahlen gespielt, daß einem schwindlig wird. Von den insgesamt 120 Eheschließungen an besagtem Schnapszahlendatum werden 99 Trauungen im Palais am Festungsgraben stattfinden. Das sind neun pro Stunde. Neun Paare wiederum werden sich auf dem Fernsehturm zu einer Uhrzeit das Ja- Wort geben, die gar nicht existiert: um 9.99 Uhr, gemeint ist 10.39 Uhr. Der Leiter des Standesamtes, Rainer Ahnert, kann diese Zahlenfixierung nicht so richtig nachvollziehen. „Ich würde mir einen kuschligeren Termin suchen“, sagt der Mann mit dem Goldzahn und Zwirbelbart, der selbst seit 1969 glücklich verheiratet ist.
Der absolute Hit ist ein Paar, das sich in Friedrichshain anmeldete und quasi im Schnapszahlenrausch auf die Welt gekommen ist: Er: geboren an einem 3.3. Sie: geboren an einem 4.4. Das Kind: geboren an einem 10.10. Wenn sich das Paar jetzt auch noch am 9. April 1999 ganz doll lieb hat, könnten sie ein zahlenträchtiges zweites Kind pünktlich zum 1. Januar 2000 auf die Welt bringen.
Auch in Kreuzberg gibt es einen Zahlenfetischisten für den 9.9.1999. Nach Angaben von Heribert Johst vom dortigen Standesamt ließt sich ein Mann vormerken, der am 9.9. Geburtstag hat und 33 Jahre alt wird. Er will exakt um 15.33 Uhr getraut werden. Ansonsten haben sich die Kreuzberger nicht von der Heiratshysterie anstecken lassen. „Das war kein Stoßgeschäft bei uns“, sagte Heribert Johst. „Die Kreuzberger sind vernünftige Bürger, die kommen erst auf den letzten Drücker.“ Überhaupt kann Johst das Theater wegen den Zahlen nicht nachvollziehen. „Ich habe das schon am 8.8.88 mitgemacht“, sagt er, „jetzt tun die Leute so, als wäre es das erste Mal.“ Doch vorsorglich hat sich das Standesamt auf 40 Eheschließungen vorbereitet. „Wenn alle anderen voll sind“, so Johst, „kommen die Leute zu uns.“
Im Standesamt von Tiergarten ging es gestern tierisch ab. Die begehrtesten der insgesamt 66 Hochzeitstermine am 9.9. waren die im Zoo. Ob Flußpferd-, Vogel- oder Affenhaus, die Berliner spinnen eben doch. Tote Hose herrschte dagegen in Neukölln. Der Bezirk, ausgestattet mit einem der häßlichsten Standesämter der Stadt, rangiert mit etwa eintausend Eheschließungen pro Jahr zwar auf Platz 3 in Berlin. Doch gestern war nichts davon zu spüren. „Bei uns gibt es Anmeldungen grundsätzlich nur mit Termin“, sagte eine Mitarbeiterin. In Charlottenburg, wo im vergangenen Jahr mit 1.160 Eheschließungen die meisten Hochzeiten stattfanden, war gestern auch nichts los. „Wir fangen erst heute mit den Anmeldungen an“, so Amtsleiter Heinz Köhler. „Ich kann diese Hysterie nicht nachvollziehen“, fügte er hinzu. Er will sogar schon eine gewisse „Angst vor Massenabfertigungen“ ausgemacht haben. Was gestern allerdings im Standesamt Hellersdorf los war, darüber läßt sich nur spekulieren. Denn dort ging niemand ans Telefon. Überlastung? Gut vorstellbar. Die Telefonnummer fängt mit „99“ an.
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