: Experimentelle Fastenzeit
■ Unter dem Motto „Sieben Wochen Leben mit dem Sozialhilfesatz“ begannen 60 BerlinerInnen die Vorosterzeit. Weshalb die Familie Franken nach drei Wochen das Handtuch geworfen hat
Wäre der Frühling nicht gekommen – vielleicht wäre Alice Franken noch dabei. Aber dann hat sich die 40jährige halt doch Blumen gekauft, als die Sonne schien und die ersten Vögel zwitscherten, und jetzt hat sie „ein bißchen ein schlechtes Gewissen“.
Sie hat nicht durchgehalten. Mit ihren zwei Kindern und ihrem Mann hat die Kleinmachnowerin an der Aktion „Sieben Wochen Leben mit dem Sozialhilfesatz“ teilgenommen. Die war organisiert von der evangelischen Philipp-Melanchthon-Gemeinde in Neukölln, eine besondere Art des Fastens in vorösterlicher Zeit: „Sieben Wochen ohne den gewohnten Lebensstandard auszukommen soll dazu beitragen, den Blick für die Lebenssituation von Sozialhilfeempfängern zu schärfen“, hatte Thomas Ulrich, Pfarrer der Gemeinde, vor Beginn der Aktion erklärt, „wem die 40 Tage zu lang sind, der kann das Experiment beenden. Bei einer ähnlichen Aktion in Saarlouis schafften es nur zwei von 50 Personen, die ganzen 40 Tage der Fastenzeit mit dem Sozialhilfesatz durchzuhalten.“
Die Frankens waren also gewarnt. Dennoch zeigten sie sich beim Besuch in ihrer Doppelhaushälfte am Rand Berlins vor etwa sechs Wochen zuversichtlich: Man habe in früheren Jahren ja schon Heilfasten, „Fernsehfasten“ und “Süßigkeitenfasten“ durchgestanden – da habe es in der Familie über die Sozialhilfe-Aktion „keine große Diskussionen“ gegeben, so Alice Franken kurz vor Aschermittwoch. „Nur die Kinder haben etwas Sorge.“ Denn absehbar seien Einschränkungen beim Chips-Verbrauch und Telefonieren.
Die Eltern Franken sind beide selbständig und arbeiten zuhause, sie als Heilpraktikerin, er als Software-Entwickler. Etwa 8.000 Mark brutto kommen jeden Monat rein, allerdings ist die Miete mit etwa 3.700 Mark im Monat hoch. „Ich rechne nicht, wieviel ich ausgebe“, erklärt Alice Franken, aber sie verbrauche normalerweise alles, was an Geld da sei. Die Frankens bewohnen ein postmodern angehauchtes Haus mit Wohnküche, Garten, Klavier im Wohnzimmer und den Karnickeln Heini und Hermann in Käfigen daneben – das gemütliche Chaos einer Familie mit Kindern im Backfischalter.
Bei dieser Aktion, das sei klar, müßten sie von etwa 1.600 Mark leben, analysiert Alice Franken die Lage vor Beginn der Fastenzeit – eine eher „angedeutete Einschränkung für sieben Wochen“, wie die Mutter zugibt: „Das ist sowieso nicht ganz echt.“ Schließlich habe man ja beispielsweise schon alle Kleidung für die Kinder, auch die Miete müßten sie nicht vom Sozialhilfesatz bestreiten. Und außerdem gibt es noch die „Überschreitungsliste“: Alle Teilnehmer der Aktion konnten darin eintragen, wieviel Geld sie mehr ausgeben als erlaubt, wenn es eben gar nicht mehr anders ging.
„Vielleicht ist es gut zu wissen, wie‘s andere haben“, meint Ayla, die elfjährige Tochter der Frankens. Alice Franken hat als alleinerziehende Mutter in den Achtzigern schon einmal für etwa zwei Jahre von der Sozialhilfe gelebt: „Ich will es mir noch mal beweisen, daß es stimmt, was ich denke: daß ich es wieder könnte“, sagte sie vor Beginn der Aktion. Außerdem sei es sinnvoll, als Selbständige auszuprobieren, ob und wie man auch mit weniger leben kann – schließlich könnten die Einnahmen auch mal sinken. Christliche Motive habe sie für die Aktion nicht: „Von mir ist das nicht so religiös als sozial gedacht“, erklärte Frau Franken – vor sieben Wochen.
Drei Wochen später hat die Familie bereits das Handtuch geworfen. Zwar habe es genug zu essen gegeben, erzählt Frau Franken, aber für den Besuch bei Freunden in Berlin (50 Pfennig pro Kilometer waren abzurechnen) und erst recht für einen Kino-Besuch wurde es „arg knapp“. Als dann auch noch ein Schulatlas gebraucht wurde, war das eine „volle Katastrophe“: ein Fall für die Überziehungsliste. Auch die „Freuden des Alltags“, etwa den Kauf von Blumen, „überlegt man sich zweimal“, berichtet Alice Franken.
In der zweiten Woche habe sie noch Ehrgeiz und Spaß daran gehabt, die Aktion durchzuhalten: etwa zu schauen, wo es mal Shampoo-Proben und mal ein Gratis- Konzert gibt. Ihr Mann habe aber schon zu maulen begonnen, als ein Kinobesuch nicht ins Budget paßte. Sie hat es auch „nicht übers Herz gebracht“, die Kinder nur mit einem Blümchen als Geschenk zu einem Kindergeburtstag zu schikken: „Da ist mir bewußt geworden, wie Kinder durch Armut auch sozial rausfallen“. Die Überschreitungsliste wurde gefüllt, ein Geschenk gekauft. Aber als dann noch Alices Geburtstag nahte und sie aus Geldnot keine Freunde zu sich hätte einladen können, machte das alles „wirklich keinen Spaß mehr“: Alles sei ihr „zu traurig“ geworden. „Und als ich wankend wurde, sind alle mit umgefallen“, erzählt Frau Franken lachend.
Insgesamt 35 Einzelpersonen und Familien, etwa 60 Berliner, haben an der Aktion teilgenommen. Neben den Frankens hat nur ein weiterer Teilnehmer mitgeteilt, daß er abgebrochen habe – schon nach drei Tagen, berichtet Pfarrer Ulrich. Allerdings haben nur etwa die Hälfte der Teilnehmer auch Rücksprache mit ihm gehalten: Jeden Dienstag gab es Diskussions- und Informationsabende, etwa zum Thema Sozialhilfe, in der Gemeinde. Zu diesen Treffen sind aber die Frankens nicht gekommen. Zwar hätten einige anfangs noch einen „sportlichen Ehrgeiz“ entwickelt, möglichst viel zu sparen: „Aber das verliert sich“, weiß der Pfarrer. Zwar müsse man sich bei den Lebensmitteln „nicht so einschränken“, aber alles Schöne – Ausgehen, Hobbys und der Besuch von Freunden – werde Luxus.
Ihm sei klargeworden, daß dasLeben von Sozialhilfe „ein ständiges Balancieren am Abgrund“ sei, analysiert Ulrich, „das ist wirklich die Endstation.“ Die Sozialhilfe, ursprünglich als kurzfristige Überbrückung in Notzeiten angelegt, könne nicht über Jahre tragen. Für viele muß sie das aber. Allein in Neukölln leben 50.000 Menschen zumindest teilweise von der Sozialhilfe, im Norden des Bezirks sogar jedes vierte Kind. Mit der Stütze sei zudem ein „Abwärtstrend in der Generationenfolge“ programmiert: Wer in die Sozialhilfe hineingeboren werde, ende mit großer Wahrscheinlichkeit auch in ihr. Die Aktion, so Ulrich, habe ihm „die Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft“ bewußter gemacht: den „immer rasanteren Abbau“ von Sozialleistungen für die „Ärmsten der Armen“. „Die Leute werden völlig allein gelassen.“ Armut, das habe die Aktion einmal mehr bewiesen, führe in die soziale Isolation.
Für die Frankens ist die traurige Zeit nun vorbei. „Glücklich“, so erzählt Alice Franken, seien ihre Kinder gewesen, als sie die Aktion abgebrochen haben. Für sie selbst habe das Leben von der Sozialhilfe bloß den „positiven Effekt“ gehabt, daß sie mal keinen Kaffee und weniger Wein getrunken habe – einfach, um Geld zu sparen. Am eigenen Leib habe sie erfahren können, daß das öffentliche Vorurteil nicht stimmt, Sozialhilfe-Empfängern gehe es eigentlich doch ganz gut. Im nachhinein wundert es sie, wie ihr Leben als alleinerziehende Mutter mit Sozialhilfe „geklappt hat“. Daß es „so hart“ war, das hatte sie nicht mehr in Erinnerung. Philipp Gessler
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