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„Liebe taz...“ Bei Weigerung Sorgerecht verwirkt –Betr.: „Sorgerechtsdrama entschieden“, taz bremen vom 3./4. April 1999

Jede dritte Ehe wird mittlerweile geschieden: Es gibt im Jahr 175.000 Scheidungen, 150.000 Kinder sind betroffen – diejenigen aus gescheiterten Beziehungen ohne Trauschein nicht mitgezählt. So extrem wie im „Fall Tiemann“ spielt sich der Kampf ums Kind zwar nur selten ab. Die Praxis zeigt jedoch immer wieder, daß Eltern nach Scheidung beziehungsweise Trennung nicht einmal ein Mindestmaß an Kooperationsbereitschaft besitzen, um sich zum Wohle des Kindes über die wesentlichen Fragen zu einigen. Über das Streitobjekt Kind wird verhandelt wie über ein Möbelstück. Nach einer Studie der Universität Hamburg haben 52 Prozent aller Scheidungskinder schon nach einem Jahr zu dem nicht Sorgeberechtigten nahezu keinen Kontakt mehr. Die Verletzungen der Psyche dieser Halbwaisen aus geschiedenen Ehen und getrennten Partnerschaften richten den Blick darauf, daß der Staat sein „Wächteramt“ (Artikel 6 des Grundgesetzes) ernst nehmen und sich diesem Massenproblem annehmen muß. Ebenso wie Kinderhaben und –aufziehen in der Ehepaarfamilie nicht als reine Privatangelegenheit angesehen werden darf, stellt die Scheidung einer Ehe mit Kindern von ihren Folgen her keine Privatangelegenheit der beiden Partner dar.

Der Gesetzgeber hat durch die Neuregelung der elterlichen Sorge endlich die Möglichkeit geschaffen, daß beide Partner auch nach einem Scheidungs- oder Trennungsfall in der elterlichen Verantwortung bleiben können, ohne daß der Streit programmiert ist. Dies bedeutet aber zunächst einmal nur eine Stärkung der Autonomie der zu scheidenden Eltern; eine Stärkung des Kindeswohls ist damit nicht automatisch verbunden. Zukünftig ist es dringend notwendig, die Eltern durch entsprechende Informationen und Beratungshilfen über die bestehenden unterschiedlichen Möglichkeiten der Wahrnehmung der Elternverantwortung besser in die Lage zu versetzen, zum Wohl des Kindes, um das es in besonderer Weise geht, handeln zu können. Eine frühzeitige Beratung und Unterstützung der Eltern, kann von der Justiz, insbesondere von den Rechtsanwälten, nicht allein gewährleistet werden, zumal es den Anwälten untersagt ist, gleichzeitig die oftmals widerstreitenden Interessen beider Parteien wahrzunehmen. In die Pflicht zu nehmen sind die Dienste der Träger der Jugendhilfe, die zur Unterstützung der Eltern und Kinder gesetzlich verpflichtet sind. Aber auch die Familiengerichte müssen die Perspektive des Kindes in der neuen gesetzlichen Regelung stärker verdeutlichen. Es darf nicht ohne Folgen bleiben, daß die Reform dem Kind erstmals einen Anspruch auf Kontakt zu seinen Eltern einräumt. Die den Gerichten vom Gesetzgeber auferlegte Pflicht zur Anhörung der Eltern in allen Eheverfahren, in denen minderjährige Kinder vorhanden sind, ist so auszugestalten, daß eine zwischengeschaltete Beratung möglichst noch in der vorausgehenden Trennungszeit erfolgen kann.

Es gibt keine für alle Schei-dungsfamilien gleicherweise geeignete Lösung zur Sorgerechtsproblematik. Bei schweren Konflikten der Eltern – dies macht der „Fall Tiemann“ sehr deutlich – bietet die gemeinsame Sorge keine Lösung; ihre Aufhebung ist dann vielmehr geboten. Vielleicht wäre es ein Ausweg, solchen Eltern eine Familientherapie aufzuerlegen. Wer sich weigert sie anzutreten, beweist damit, daß ihm das Wohl seines Kindes nicht sonderlich am Herzen liegt – er hat den Anspruch auf das Sorgerecht verwirkt.

Thomas Schlingmann / Rechtsanwalt

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