: Konstruktive Querdenker
■ Was machen Geisteswissenschaftler nach dem Studium? Sie werden vergeistigte Taxifahrer oder selbständig, jobben mal hier, mal da, machen alles mögliche. Aber sie werden nicht arbeitslos
Fast fünf Jahre ist es her, daß Andreas sein Diplomzeugnis in der Hand hielt. Als Politologe wollte er Journalist werden. Er bewarb sich bei Rundfunkanstalten, Tageszeitungen und Schulbuchverlagen um ein Volontariat. Fehlanzeige. Um die Zeit zu überbrücken, schrieb Andreas für andere Studenten Diplomarbeiten, half bei der Erstellung von Reiseführern, jobbte in einem Werbebüro.
Heute verdient der 32jährige mit der Betreuung von Computersystemen gutes Geld. Seine Kunden sind kleine Unternehmen, die sich vor allem aus Andreas Freundeskreis rekrutieren oder ihm durch Mund-zu-Mund-Propaganda vermittelt wurden.
Andreas entspricht gleich in zweifacher Hinsicht dem Klischee eines Geisteswissenschaftlers: Er kommt dem Mythos des vergeistigten Taxifahrers nahe. Und Andreas hat noch nie ein Arbeitsamt von innen gesehen. Denn auch wenn immer wieder von der „prekären Lage“ der Geistes- und Sozialwissenschaftler die Rede ist: Rein statistisch sind sie mit einer fachspezifischen Arbeitslosenquote von unter 5Prozent nicht häufiger arbeitslos als andere Akademiker. Bei der Frankfurter Zentralstelle für Arbeitsvermittlung (ZAV) sind sogar doppelt so viele Ingenieure wie Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler gemeldet.
Daß Geisteswissenschaftler „alles mögliche werden, nur nicht arbeitslos“, konstatiert auch der Absolventenforscher Karl-Keinz Minks vom Hannoveraner Hochschul-Informationssystem. Minks verweist vor allem auf die psychische Verfassung derer, die sich den vermeintlich brotlosen Künsten hingeben: „Viele scheuen sich nicht vor holprigen Wegen“, jobben für wenig Geld, hangelten sich von Werkauftrag zu Werkauftrag oder wählten den Weg in die unsichere Selbständigkeit.
Ein Blick auf Stellenausschreibungen macht auch deutlich, daß viele gerne etwas anderes machen würden: Statistisch kommen auf jede Stelle 72 Bewerbungen; im akademischen Durchschnitt sind es 18 Bewerber pro Ausschreibung. Vor allem neigen Sozial- und Geisteswissenschaftler dazu, einheitliche Wege zu gehen: Nach einer Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln sind 84 Prozent der Geisteswissenschaftler nach wie vor im öffentlichen Dienst oder in den Ressorts Medien und Kultur tätig. Und: Im Schnitt verdienen sie deutlich weniger als ihre akademischen Kollegen. Der Beliebtheit der 1.740 geisteswissenschaftlichen Studiengänge in Deutschland tut das keinen Abbruch: Seit Jahren studiert etwa jeder fünfte zu Beginn seines Studiums ein geisteswissenschaftliches Fach; 40Prozent steigen unterwegs um oder aus.
Trotz fortschreitender Globalisierung und veränderten Anforderungsprofilen an Führungspersönlichkeiten traut sich die freie Wirtschaft nicht recht an diplomierte Politologen oder Soziologen heran. „Berührungsängste auf beiden Seiten“ sieht da auch Absolventenforscher Minks: Gerade auf der Vorstandsebene würden viele Entscheidungen von Juristen gefällt, und die bevorzugten Juristen.
Rund dreißig Initiativen bundesweit haben es sich daher zur Aufgabe gemacht, die von Studenten häufig beklagte Kluft zwischen Studium und Praxis zu verringern. Sie heißen „Student und Arbeitsmarkt“ oder „Berufsorientierung“ und sind häufig konzertierte Aktionen von Universitäten und Unternehmen. Studenten der Geisteswissenschaften wird dort während ihres Studiums oder danach Zusatzwissen vermittelt – vom Bewerbungstrainig über EDV- und BWL-Kenntnisse bis hin zu Praktika und Präsentationstrainings. Der Erfolg liegt auf der Hand: Bei einer Evaluation der ältesten Initiative, „Student und Arbeitsmarkt“ in München, äußerten sich Studenten und Unternehmen zufrieden mit ihren universitären Praktikanten. Gelobt wurden vor allem die „Fähigkeit zum Mitdenken“, der Hang zum „konstruktiven Querdenkertum“, Kreativität und Phantasie. Macht das Beispiel Schule, erreicht so mancher Soziologe vielleicht noch einen Platz in einer Führungsetage, den er zu Beginn des Studiums weit von sich gewiesen hätte. Jeannette Goddar
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