: Himmler, Hilton, Holmes
Der Mythos Tibet: Das Dach der Welt und die immer wieder neue westliche Vereinnahmung. So unterschiedlich der westliche Zugriff auf Tibet ist – immer spielen die eigenen Wunschvorstellungen eine Rolle ■ Von Detlev Brockes
Sie haben den Papst besucht? Sie wollten einfach mal ein paar Tage in seiner Nähe sein, in der Aura dieses wichtigen spirituellen Führers? Obwohl Sie gar kein Katholik sind? Etwas merkwürdig finden wir das schon, wir als kritische und aufgeklärte Menschen.
Sie haben den Dalai Lama besucht? Obwohl sie kein tibetischer Buddhist sind und die Reise viel länger dauert als zum Papst? Natürlich, Sie wollten den Ort kennenlernen, an dem er meditiert und arbeitet, einfach mal in seiner Nähe sein. Klar, der Dalai Lama ist schließlich ein wichtiger spiritueller Führer. Das finden wir echt in Ordnung.
In der nordindischen Kleinstadt Dharamsala, wo der Dalai Lama seit der Flucht aus Tibet vor 40 Jahren residiert, gibt es Tempel, Klöster und Touristen-Kneipen. In einer der unbefestigten Gassen, zwischen dem Hotel Tibet und dem Welfare Office, liegt ein kleiner Laden mit dem harmonischen Namen „Friends“. An zwei Bildschirmen laufen Videospiele, es wird geschossen wie üblich. Am Joystick sitzt ein junger Mönch mit rotem Gewand.
Darf der das? So ein gewalttätiges Spiel! Wir sind enttäuscht. Ein anderer Mönch trägt am Handgelenk eine klotzige Uhr. Dabei sollten tibetische Mönche bescheiden sein – und am besten die Tageszeit aus den Wolken ablesen. Das ist wohl nicht zuviel erwartet angesichts der Berichte, daß einige Eingeweihte sich sogar durch die Luft fortbewegen können.
Wir bewundern in Dharamsala die rotgewandeten WestlerInnen, die an den Lehrvorträgen des Dalai Lama teilnehmen. Sie haben das Gelübde als Mönch oder Nonne abgelegt, wahrscheinlich sprechen sie Tibetisch. Völlig abwegig dagegen erschiene uns der umgekehrte Weg: wenn ein Tibeter Latein lernt und in ein katholisches Kloster in Oberbayern eintritt.
Tibet, das sagenumwobene Dach der Welt, der Ort fliegender Mönche, das Land mit dem erleuchteten Gottkönig, die letzte Heimstatt von Weisheit, Frieden und Gerechtigkeit (wenn da nicht die chinesischen Besatzer wären) – dieses Tibet genießt im Westen hohes Prestige. Nicht erst, seit die New-Age-Sehnsucht erwacht ist und Hollywood das Thema chic findet; auch im vorigen Jahrhundert schon. Allerdings: Dieses Tibet hat sich der Westen konstruiert, es ist ein Mythos.
Das Tibet, wie es der Mythos will, ist heilig und friedlich, magisch und ökologisch. Immer anders und besser jedenfalls als der materialistische Westen. Eine Projektionsfläche für westliche Phantasie.
Auch die verbissen vorgetragenen Attacken auf Tibet, wenn es als feudalistische und korrupte Theokratie gebrandmarkt wird, die es bis zum Beginn der chinesischen Besetzung vor 50 Jahren gewesen sei – sind sie nicht nur die Kehrseite der Idealisierung? Tibet wird vergöttert oder verteufelt, nur wirklich ist es nicht. Die Stilfigur des unzugänglichen, geheimnisvollen Landes am Himalaya hat in der Kulturgeschichte des Westens Tradition.
1933 erschien der utopische Roman „Lost Horizon“ des Engländers James Hilton. Ein kleines Flugzeug mit westlichen Passagieren muß im Himalaya landen; die Reisenden gelangen in das Kloster Shangri-La, wo Weisheit und Harmonie zu Hause sind. Der deutsche Titel des Romans, „Irgendwo in Tibet“, nennt den Namen des Landes – und zugleich bleibt der Ort im traumhaft Unbestimmten. Schon zuvor hatte Tibet als Fluchtpunkt westlicher Phantasie gedient. Als Arthur Conan Doyle, der Autor von Sherlock Holmes, Ende vergangenen Jahrhunderts seinen Helden nach einer zweijährigen Pause reaktiviert, muß die Abwesenheit des Detektivs erklärt werden. Holmes teilt dem erstaunten Dr. Watson mit, er sei, als norwegischer Forscher getarnt, in Tibet gewesen und habe den Dalai Lama getroffen. „Eine dreiste Behauptung“, merkt der australische Kulturwissenschaftler Peter Bishop an, „da doch seit mehr als einem Jahrhundert nur drei Weiße tatsächlich in Lhasa gewesen waren.“ Aber als literarischer Kunstgriff gerade recht, um den Ruhm des britischen Meisterdetektivs zu erhöhen.
Sogar Tim und Struppi haben die Reise nach Tibet angetreten – Klosteraufenthalt und schwebende Mönche inklusive. Die Episode, in mehr als 30 Sprachen übersetzt, könnte eines der meistverkauften Bücher über Tibet sein, meint der US-amerikanische Professor Donald S. Lopez.
Lopez hat sich auch mit dem Esoterikroman „Das dritte Auge“ aus den fünfziger Jahren befaßt, angeblich die Geschichte des tibetischen Lamas Lobsang Rampa. Lopez' Tibetologie-Studierende lobten gerade diesese Buch als besonders glaubwürdig und realistisch. Dabei war der Autor, ein englischer Installateur, der behauptet, sein Körper sei von dem Lama in Besitz genommen worden, selbst nie in Tibet. Die Erwartung des westlichen Publikums hat er deshalb vielleicht um so besser getroffen. Den Mythos Tibet haben auch die Nationalsozialisten kultiviert. SS-Führer Heinrich Himmler war für okkulte Phantasien empfänglich, wie der Ethnologe Reinhard Greve darlegt: Tibet wurde als Geheimreich gesehen, als Kraft- und Weisheitszentrum, als Zufluchtsort der arischen Ur-Rasse aus dem untergegangenen Atlantis. 1938 startete unter Himmlers Schirmherrschaft eine mehrmonatige Expedition von fünf SS-Männern nach Tibet, unter anderem mit dem Rassenkundler Bruno Beger, der in Tibet nach Spuren der „nordischen Rasse“ suchen wollte.
Anfang 1943, als deutsche Truppen weit nach Osten vorgerückt waren und in Deutschland die Eröffnung des Sven Hedin Reichsinstituts für Innerasien gefeiert wurde, tauchte Tibet auch in der Propaganda auf. Dabei war es nützlich, schreibt Greve, Tibet „als geheimnisvolles Zauberland mit seltsamen Bräuchen zu mystifizieren“ – um die Bevölkerung für das Thema zu interessieren und zugleich abzulenken vom Kriegsalltag. Die Kehrseite des Mythos, die Verteufelung, gab es genauso: Einige nationalsozialistische Gruppen stellten Tibet in eine Reihe mit Juden und Freimaurern – als Urheber der „Weltverschwörung“.
Die braune Vereinnahmung Tibets geht auch heute noch weiter. In Österreich, so der Publizist Rüdiger Sünner, erschien das Buch „Die schwarze Sonne von Tashi Lhunpo“ (das Kloster Tashilhunpo, Sitz des Pantschen Lama, ist eines der wichtigsten in Tibet). Zum Personal des kruden Propaganda-Romans gehören eingeweihte SS- Männer, die in Tibet nach Resten des sagenhaften Thule gesucht haben und heute gegen amerikanischen Kapitalismus und internationales Freimaurertum kämpfen.
In Dharamsala, zehn Minuten Fußweg von den Videospielen bei „Friends“ entfernt, liegt in einem Hintergebäude das Amnye Machen Kulturinstitut (AMI). Einer der Leiter ist der tibetische Schriftsteller Jamyang Norbu. „Tibet“, sagt Norbu, „ist bloß Kulisse für weiße Protagonisten.“ Beispiel: der Film „Sieben Jahre in Tibet“, der auf dem Bericht des österreichischen Bergsteigers Heinrich Harrer basiert. „Ein überzogenes und in keiner Weise überzeugendes Schauspiel“, sagt Norbu. Harrer im Film verbringe die sieben Jahre mit demonstrativer Sinnsuche und mit Wehmut wegen des Sohnes, den er in Österreich zurückließ. Fast alle Tibeter im Film seien dazu verurteilt, das Klischee vom Erleuchteten zu bedienen, indem sie unablässig Weisheiten von sich geben. Norbus Urteil: „Peinlich anzusehen.“ Was übrigens nicht für die Vorlage gilt, Harrers Buch aus den fünfziger Jahren. Das AMI hat das Werk inzwischen ins Tibetische übersetzt – eine der Aufgaben des Instituts, das 1992 mit dem Segen und einer Geldspende des Dalai Lama gegründet worden war und einem humanistischen und emanzipatorischen Anspruch folgt. „Sieben Jahre in Tibet“ sei eines der ersten westlichen Bücher nach der Bibel, das in tibetischer Sprache verfügbar ist, sagt Norbu.
Der Mythos des geheimnisvollen Landes habe auch nicht gelitten, meint der AMI-Leiter, seit die chinesische Besatzungsmacht den Tourismus als Devisenquelle fördert und das Dach der Welt leichter zugänglich ist. Der Westen will sein Shangri-La – und er bekommt es.
Denn viele Exil-TibeterInnen spielen mit. Sich an westliche Erwartungen anzupassen, ist für sie eine Chance, politische und materielle Unterstützung zu erhalten. Die politische Elite im Exil wolle vor dem Westen eine gute Figur machen, sagt Norbu. So sei zum Beispiel der Kampf für ein unabhängiges Tibet ersetzt worden durch einen schwammigen Katalog mit ökologischen, pazifistischen, spirituellen und „universalen“ Zielen, „die oft nur wenig mit Tibets eigentlichen Problemen zu tun haben“. Die Geschichte sei in einigen Aspekten umgeschrieben worden, um Tibet als Land von Frieden, Harmonie und Spiritualität präsentieren zu können, argumentiert Norbu. Die politische Elite spiele zum Beispiel den gewaltsamen Widerstand von TibeterInnen während der ersten Jahre der chinesischen Besetzung herunter. TibeterInnen empfiehlt Norbu, „in ihrer eigenen Realität zu leben“, anstatt in der Phantasie des Westens kleine, wenn auch finanziell einträgliche Rollen zu übernehmen.
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