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Alltagsgeräusch

Wenn Klettverschlüsse aufgerissen werden: Unsere Bekleidung ist in dieser Saison sehr schnell geworden  ■   Von Brigitte Werneburg

Es gibt ein neues Alltagsgeräusch. Rrrrrrtscht, und gut laut, so hört es sich an. Zugegeben, es ist nicht ganz und gar neu, aber noch nie war es so auffällig und ubiquitär wie heute. Vor allem die neuen Handtaschen, die keine solchen mehr sind, sondern Körper-, Schienbein- oder Oberarmtaschen, machen dieses Geräusch. Zwar hörte man das Geräusch auch hin und wieder schon bei bestimmten Fahrradboten- und DJ-Taschen. Da aber jenes ominöse Geräusch bei solchen Umschlagtaschen nur von dem Teil stammt, das man auch nur lose über den eigentlichen Taschenkörper hängen lassen kann, ging es noch ganz dezent ab. Jetzt aber werden mit diesem Geräusch die neuen grauen Wollflanelltaschen auseinander und vom Körper genommen – und die müssen ständig auseinander und vom Körper genommen werden. Denn sind die Body bags auch nur ein bißchen gefüllt, kann sich Mann oder Frau nicht mehr ohne weiteres bequem in einen Sessel fläzen oder sich im Bus und der U-Bahn einfach hinsetzen. Rrrrtsch und der Velcro-Klettverschluß reißt auf.

Der mit winzigen Nylonhäkchen versehene Haftstreifen und sein Gegenstück hat der Schweizer Ingenieur und Jäger George de Mestral erfunden. Während er seine Jagdhunde wieder einmal von Kletten zu befreien versuchte, fiel ihm auf, welch raffiniertes Haftsystem er da in Händen hielt. Er nahm also einen Kredit von 1952 recht beachtlichen 150.000 Dollar auf und machte sich daran, das Naturprodukt zu industrialisieren. Doch anders, als er es sich erhofft hatte, war das fertige Produkt zunächst keineswegs ein Verkaufsschlager. Die Haftstreifen sahen zu billig, also zu häßlich aus, um in der Bekleidungsindustrie Verwendung zu finden. Nur die Nasa setzte es bei ihren Astronautenanzügen ein. Doch langsam, peu à peu setzte sich der „hook-and-loop-fastener“ überall dort durch, wo die Leute durch dikke Schutzhandschuhe in ihren Handbewegungen eingeschränkt waren, oder wo Dinge schnell und stabil befestigt und ebenso schnell wieder gelöst werden sollten.

Jetzt werden aber nicht nur Taschen damit arretiert, besonders beliebt ist der Klettverschluß heuer bei Schuhen. Unsere Bekleidung ist gewissermaßen sehr schnell geworden in dieser Saison. Sehr körpernah, sehr glatt und wie aus einem Guß. Da stören Löcher, Knöpfe oder Schnürsenkel; alles geht rrrrrtsch-ratsch, mit breiten Laschen und Velcro. Schnell zu öffnen und schnell zu schließen. Ein Vorläufer der neuen Bekleidungsgeschwindigkeit war das Phänomen der Badelatschen. Fixer kommt man in Schuhe einfach nicht rein und auch nicht wieder raus, als mit diesen Latschen, die dicke, leichte Schutzsohlen aus Plastik haben, oft mit Noppen.

Erst schlupfen und kletten, dann wegschleudern und abreißen: dies sind unsere Gesten, wenn wir uns an- und ausziehen. Alles ist sehr leicht, synthetisch, abwaschbar, silbern. Technisch, praktisch und am liebsten weiß. Daher sieht alles immer ein bißchen orthopädisch aus, nach Krankenhaus und Pflegepersonal; im besten Fall nach staubfreier Chipfabrik. Und weil wir schon beim Krankenhaus sind: Irgendwie meint man, die ganze Welt sei ständig bereit in die Notaufnahme eingeliefert zu werden. In wieviel Minuten entledigen zwei Schwestern mit Scheren einen Körper seiner Bekleidung? Das ist nun keine Frage mehr.

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