piwik no script img

„Mein Bruder ist dort jämmerlich verreckt“

■ An Beamtenwillkür verzweifelt: Der Skandal hinter einem eingestellten Verfahren

Die Fassung verliert Martina L. auch jetzt noch, wenn sie vom Tod ihres aidskranken Bruders in der U-Haftanstalt Holstenglacis spricht. Gestern mußte sie vor Gericht schildern, warum sie am 15. Dezember 1994 das Wachpersonal als „Beamtenschweine“ beschimpft hatte. Dafür war sie in erster Instanz zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen a 15 Mark verdonnert worden, wogegen sie Einspruch eingelegt hatte.

„Ich durfte ihn nicht mal in den Arm nehmen“, beschreibt Martina L. die monatelangen Schikanen, die ihrer Schimpftirade voraus gegangen waren, während sie sich um ihren auf 40 Kilo abgemagerten Bruder im Knast kümmerte.

Weil Frank R. zwei Jahre zuvor aus dem Bernhard-Nocht-Institut geflohen war, wurde er ans Bett und an den Rollstuhl gefesselt, zum Teil in Handschellen (taz berichtete). Mit Aids im Endstadion konnte er inzwischen kaum noch sehen und gerade stehen. Mehrere Anträge auf Haftunfähigkeit wurden abgewiesen, obwohl ärztliche Gutachten dies mehrfach nahegelegt hatten.

Nach seinem Tod im November 1994 wollte Martina seine persönliche Habe aus dem Gefängnis abholen. Mit der Begründung, sie bräuchte einen Erbschein, der dann letztlich doch nicht nötig war, hatten die Justizvollzugsbeamten sie schon mehrfach abgewimmelt. Auch dieses Mal wollte man Martina L. aus fadenscheinigen Gründen wegschicken. „Ich wollte nur die paar Sachen, die von meinem Bruder übrig geblieben waren“, so Frau L. zum Gericht.

Doch die Beamten hätten über „meinen Kummer und Schmerz“ nur gegrinst. Sie alarmierte den GAL-Referenten Peter Mecklenburg und weigerte sich zu gehen, beschimpfte die Beamten statt dessen mit „Beamtenschweine“, „Wichser“ und anderen Unartigkeiten.

Nachdem Mecklenburg sich eingeschaltet hatte und in die JVA Holstenglacis gekommen war, ging's dann plötzlich doch: „Innerhalb von zwei Minuten hatten wir die Sachen“, so der GALier. Was das Gericht nicht mehr erfuhr: Laut Mecklenburg wollte Anstaltsleiter Hubert Mündelein die mündliche Anordnung des Strafvollzugsamtes, den Karton mit Frank. R.s Sachen auszuhändigen, nicht befolgen. Erst nachdem per Fax eine schriftliche Anweisung vorlag, gab er klein bei. „Komisch ist auch“, so Martina L.s Rechtsanwalt Gerhard Baisch, „obwohl R. viel geschrieben hat, findet sich nach seinem Tod nicht ein einziges handschriftliches Blatt mehr bei seiner Habe.“

Staatsanwalt Horst Ketel erklärte sich angesichts der Vorgeschichte mit einer Verfahrenseinstellung einverstanden. Aber: „Beamte haben's auch schwer“ und Pauschalurteile könne er nicht gutheißen. Martina L. mußte sich bei den Beamten entschuldigen.

Silke Mertins

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen