■ feuerfluss: Annaeherung an brennende koerper
penelope wehrlis arbeiten sind schwer einzuordnen. handelt es sich um eine installation oder um eine performance? wehrlis arbeit bewegt sich zwischen den grenzen.
wehrli installiert 11 flosse mit hemdsculpturen auf einem fluss, die 11 ueberdimensionalen stoffhemden sind von wehrli beschriftet mit texten, geschrieben von 11 frauen verschiedener nationalitaeten und epochen, denen zweierlei gemeinsam ist: das schreiben und der freitod.
die frauen thematisieren in ihren texten den wunsch nach der vernichtung ihres koerpers, den sie aus distanzierter sicht, entfremdet von ihm, wie sezierend, beschreiben. aus der entfremdeten sicht wird der koerper zu material. das schreiben bewegt sich weg vom koerper.
die ursache dieser entfremdung ist die einwirkung von aeusserer gewalt: gewalt, die unertraeglichen schmerz bedeutet, die entfremdung macht den schmerz voruebergehend ueberlebbar. doch der koerper meldet sich immer wieder zurueck. die von aussen ausgeuebte gewalt hat sich in den koerper eingeschrieben, macht den koerper zum traeger dieser gewalt, zum ort des schmerzes. der koerper selbst uebt nun gewalt aus auf die ihm entfremdete frau, indem er sie immer wieder erinnert, hineinzieht in den schmerz.
diese frauen sind ohnmaechtig der gewalt ausgeliefert, sowohl der gewalt von aussen als auch der gewalt ihres koerpers. die ohnmacht laesst sie erstarren.
die vernichtung des koerpers wird zum einzigen ausweg, dem schmerz, der ohnmacht zu entkommen. der finale gewaltakt beendet die permanente gewalt. der akt des suicids setzt der ohnmacht eine tat entgegen, ist macht des entfremdeten ueber den koerper, der gewalt ausuebt. das opfer wird zum taeter, der suicid entzieht dem taeter sein opfer, ein taeter ohne opfer verliert seine macht, der suicid ist der subversive akt des opfers gegen den taeter.
wehrli installiert ihre 11 hemdskulpturen auf flossen im fluss. die hemden verhuellen keinen koerper, sie sind auf drahtgestelle aufgezogen, wie zelte. die hemden haben ueberdimensional lange aermel, man wuerde muehe haben zu schreiben mit solch langen aermeln. die hemdhuellen simulieren keinen koerper, sie sind an der vorderen seite offen und geben den blick frei auf den hohlen innenraum.
die unterschiedlich grossen hemden sind unterschiedlich beschriftet mit den texten der unterschiedlichen frauen. im fluss stehen sie raeumlich voneinander entfernt. der fluss wird zur buehne, die hemden zu theatralischen kostuemen.
stimmen sind zu hoeren. wehrli belaesst es nicht bei der schrift auf den hemden, sondern verdoppelt die texte. hoerbar, von 11 verschiedenen stimmen auf band gesprochen, unsentimental wie tonbandprotokolle, sind die verschiedenen texte jetzt akustisch in ihrer differenz zu hoeren:
in ihrer differenz zu den anderen frauen, aber auch in differenz zu den hemdsculpturen, die wie grosse, starre, marionettenaehnliche puppen den fluss bevoelkern.
wehrli steigt in den fluss. sie zuendet ihre hemdskulpturen an: die installation wird zur performance. sie setzt die flosse in bewegung. begraebnisritual und verlebendigung zur gleichen zeit. die brennenden hemdkoerper treiben den fluss hinunter, werden selbst zu performern, unkontrollierbar. feuer fluss.
werhrli gibt den frauen einen Ort, der nicht begrenzter, stehender raum ist, sondern sich in permanenter bewegung befindet. die sprechenden stimmen bleiben hoerbar ueber die verbrennung hinaus, zeugen.
Juliane Gabriel, Berlin, Sommer 97*N*
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