: Das lebende Museum
„Wenn die Nacht hereinbricht und die Glasblase der Kuppel glüht, aus dem darunterliegenden Plenum angestrahlt, wird das Gebäude zu einem Leuchtstrahl der Stärke und Energie des demokratischen Prozesses in Deutschland.“ Ein Planungsprotokoll über dem Umbau des Reichstags ■ von Sir Norman Foster
Der Reichstag hat fast jedes größere öffentliche Ereignis im Berlin der Nachkriegszeit miterlebt, von Protestversammlungen bis hin zu Rockkonzerten. Das Projekt, mit dem wir den Wettbewerb gewannen, entsprach dieser Tradition, indem es den Reichstag in die Mitte eines neuen öffentlichen Forums setzte, vom Schirm eines Daches behütet, welches symbolisch Altes und Neues verband. Dieses Dach funktionierte zudem ökologisch, gewann Energie, lenkte Licht ins Innere des Reichtstags und unterstützte ein System natürlicher Belüftung.
Als der Spreebogen-Gesamtplan angenommen wurde, veränderte sich unser Auftrag radikal. Statt unseren Plan anzupassen, begannen wir von vorn: Wir gingen von einem Gebäude aus, dessen verstümmelter Symbolismus den heutigen Deutschen sehr wenig bedeutete. Am konsequentesten wäre es gewesen, den Reichstag auszuweiden und ein modernes Gebäude an die Stelle der bestehenden Mischung aus Bauteilen des späten 19. Jahrhunderts und der sechziger Jahre zu setzen. Aber allmählich kamen wir zu der Einsicht, daß in diesen Bauteilen nach wie vor Geschichte nachhallte, die nicht einfach weggefegt werden dürfte.
Das letzte wichtige Ereignis in der Geschichte des Reichstags, kurz vor dem Beginn des Wiederaufbaus, war im Juni und Juli 1995 die außerordentliche „Verpackung“ durch Christo und Jeanne-Claude. Die Verhüllung wirkte kathartisch. Sie schien das Gebäude seiner tragischeren Assoziationen zu entlasten und es auf die nächste Phase seiner Geschichte vorzubereiten. Dann wurde das Gewebe abgenommen, und die Abrißkolonnen gingen ans Werk.
Als wir die Geschichtsschichten abblätterten, kam das Skelett des alten Reichstags ans Licht, zusammen mit verblüffenden Spuren vergangener Ereignisse, etwa den Kreidegraffiti sowjetischer Soldaten aus dem Jahr 1945. Der Reichstag trägt mehr Spuren von Zeit und Geschichte als jede Ausstellung. Bewahrt man diese Narben, wird er zu einem lebenden Museum deutscher Geschichte.
Bezeichnenderweise betreten Öffentlichkeit und Parlamentarier den Reichstag nun als Gleiche, auf dem gleichen Weg. Wir haben die ursprüngliche Eingangssequenz – die große Treppenflucht von Westen hinaus – wieder eingeführt und dem Plenum seine ursprüngliche Orientierung wiedergegeben, so daß man das Gebäude betritt und unmittelbar auf die Plätze des Bundestagspräsidenten, des Kanzlers und anderer führender Politiker schaut.
Bei der Diskussion über eine neue Kuppel plädierten mächtige Stimmen dafür, die historische Struktur wiederherzustellen. Ich war leidenschaftlich gegen diese Idee, verstand jedoch, daß der umgewandelte Reichstag in der Berliner Skyline vertreten sein sollte, um all die Leichtigkeit, Transparenz und öffentliche Zugänglichkeit diesese Projekts mitzuteilen. Wir konzipierten die neue Kuppel als eine „Laterne“ mit allen Assoziationen, die diesem Begriff zukommen. Ihren Kern bildet eine „Lichtskulptur“, eine gespiegelte kegelförmige Struktur, die wie ein umgekehrter Leuchtturm funktioniert, um das Licht des Horizonts ins Plenum zu lenken.
Für Abgeordnete ist das Plenum der natürliche Brennpunkt des Gebäudes, aber es kommen auch Vertreter der Öffentlichkeit her, um den Debatten zu lauschen. Es war uns wichtig, daß sie das Gefühl haben sollten, an diesem Prozeß beteiligt zu sein. Das Plenum und die öffentlichen Tribünen sind daher so angeordnet, daß sie eine intime Beziehung zwischen Öffentlichkeit und Politikern herstellen.
In seiner Vision einer öffentlichen Architektur, die das ökologische Gleichgewicht wiederherstellt und Energie eher liefert als verbraucht, zeigt der Reichstag eine seiner wesentlichsten Äußerungen von Optimismus. Optimistisch wirkt er auch in einem anderen Sinne. Wenn die Nacht hereinbricht und die Glasblase der Kuppel glüht, aus dem darunterliegenden Plenum angestrahlt, wird das Gebäude zu einem Leuchtstrahl der Stärke und Energie des demokratischen Prozesses in Deutschland.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen