Neues vom strafenden Vater

Eine Art Brechtsche Befremdungstheorie: Lars von Trier bebildert mit seinem neuen Film „Idioten“ einen weiteren Paragraphen des Dogma 95 und erzeugt dabei vor allem Stilwollen. Es mieft nach Urschreitherapie und Regressionswunsch  ■   Von Brigitte Werneburg

Da sitzen sie nun auf dem Sofa, frontal zur Kamera, nicht so alt geworden wie die Paare bei „Harry und Sally“, aber doch in der gleichen, rückblickenden Position: Die Jungen und Mädchen jener Gruppe, die einmal den Spastiker in sich und den Spießer im ahnungslosen Gegenüber entdeckten. Sie berichten davon, wie die Gruppe lebte, liebte, auseinanderbrach, und warum. Und dazwischen läuft Filmmaterial, das so tut, als sei es der authentische Videomitschnitt jenes durchgeknallten Experiments des Kollektivs aus dem Villenvorort. Einer muß sich aufgemacht haben, die einzelnen Gruppenmitglieder noch einmal zu befragen, um das neue mit dem alten Material zusammenzuschneiden. Im Zweifelsfall war es wohl Lars von Trier.

Auch wenn der sich nicht länger als Künstler und Autorenfilmer sehen will und auf seinen Namen im Abspann verzichtet, „Idioten“ ist ein Film von Lars von Trier, ein Autorenfilm par excellence. Der Film tut nur so, als sei er ein Dokumentarfilm. Geht das nun mit der dogmatischen Rechtgläubigkeit konform, zu der sich Trier und einige andere dänische Filmemacher 1995 in Kopenhagen bekannten? Immerhin sollten Dogma-Filme im „Hier und Jetzt“ spielen und eine neue Wahrhaftigkeit des Films gegen die Erzählkonventionen des Kinos durchsetzen.

Aber am Ende bleibt von den zehn Geboten des Dogma 95 eben doch nur Stil. Schlechtes Licht, Handkamera, Tonangeln, die ins Bild ragen, und ein Kameramann, der im Spiegel zu sehen ist: gewissermaßen ein Brechtscher Verfremdungsapparat. Ein Trierscher Befremdungsapparat will dagegen die Geschichte sein. Allerdings mieft sie stark nach 70er Jahre und Urschreitherapie; nach Problemstellungen, die heute sichtlich ihren modischen Charme eingebüßt haben; wie der Wunsch nach der Regression, nach einem antiautoritären präödipalen Paradies, auf das der kastrierende Vater keinen Zugriff hat. Um diese Insel der Seligen klar zu konturieren, reicht der Gruppensex im Hardcore-Format, für den Trier zwei professionelle Pornodarsteller engagierte, freilich nicht hin.

Dafür bedarf es der Gegenprojektion. Zum Beispiel des bösen Immobilienfritzen, der seiner bourgeoisen Klientin die Villa nicht verkaufen kann, da die Idioten die Gartenbenutzung für sich reklamieren.

Den Idioten zu spielen, könnte auch eine wichtige, weil ästhetische, poetische Erfahrung sein. Dazu bedürfte es der bösen Gegenfigur nicht unbedingt. Und manchmal, wenn das souverän agierende Schauspielerensemble mit unbestreitbar frivolem Schwung über sich selbst und seine Umwelt herfällt, stößt „Idioten“ auch bis an diese Grenze vor. Doch die Geschichte, die Lars von Trier auf dieser Wegstrecke einmal mehr erzählt, ist eben die altbekannte: Der autoritäre Vater ist schon immer mitten unter uns.

Im Falle von „Idioten“ heißt der Tyrann Stoffer (Jens Albinus) und er besteht darauf, daß der Freizeitspaß doch bitte existentiell werde. Die gespielte Behinderung muß von jedem Gruppenmitglied in sein privates Umfeld getragen werden. Weil aber der Volkshochschuldozent den älteren Damen, die seinen Kunstgeschichtskurs besuchen, nicht zumuten mag, plötzlich einen lallenden, zuckenden und spuckenden Lehrer vor sich zu haben, zieht das examinierende Komitee unter Stoffers Vorsitz unverrichteter Dinge ab. Aber nicht nur der Lehrbeauftragte, auch der Werber versagt. Allein Karin (Bodil Jørgensen), die per Zufall in die Gruppe hineingezogen wurde, bewährt sich. Sie hat aber, wie sich herausstellt, ihr Kind verloren. Vom Schmerz betäubt verließ sie ihr Haus, irrte herum, wurde von Stoffer aufgegabelt und in die Gruppe gezogen, worüber sie es versäumte, zur Beerdigung ihres Kindes zu erscheinen. Ausgerechnet sie schafft es, nach Hause zurückzugehen, mit ihrer Familie Kaffee zu trinken und sich den Kuchen ins Gesicht zu schmieren wie ein Idiot – vielleicht aber auch nur so, wie es das noch ungeschickte Kind getan hätte, das ihr gerade gestorben ist.

Weil aber nur die Passionsgeschichte der verhärmten Mutter verhindert, daß sich der Film aus einer beliebigen Abfolge lustiger Possen zusammensetzt, fühlt man sich auch schon wieder wie auf dem Kirchentag. Allzu parabelhaft pappte der Regisseur die Szene ihres hoffnungslosen Tuns, das ihrer hoffnungslosen Situation Ausdruck gibt, ans Ende des Films. Im Zweifelsfall ist es eben immer eine moralische Geschichte, die Lars von Trier erzählt. Und trotz aller vorherigen politischen Inkorrektheit, sie ist im Falle von „Idioten“ eine gründlich biedere. Entsprechend dem Trierschen Dogma von 1987: „Ein Film sollte wie ein Stein im Schuh sein. Prost.“ Wenn man ihn los ist, hat man ihn schon vergessen. Skøl!

„Idioten“, Buch, Regie, Kamera: Lars von Trier, mit Bodil Jørgensen, Jens Albinus, u.a., DK 1998, 117 Min.