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Alles ohne Ticket

Auf „Mule Variations“ ist Tom Waits, der letzte der amerikanischen Hobos, auf der Flucht vor seinem Klischee  ■    Von Uli Lemke

Tom Waits hat sich in den letzten zehn Jahren zum spartenübergreifenden Gesamtgenre ausgewachsen. Manche sehen in ihm den letzten aufrechten Singer/Songwriter eines anderen Amerika, Kulturapostel feierten hierzulande die Bühnenwerke, an denen Waits beteiligt war, Cineasten verfolgen die Fährte des Schauspielers. In solchen Situationen kann die Sehnsucht wachsen, der Meute zu entkommen.

Auf der Rückseite des Covers zum neuen Album „Mule Variations“ erscheint Waits dem Publikum als Vogelscheuche. Vorne hängt er im langen Cowboymantel schräg in der Prärie herum. Das Styling des Werks, das gerade bei einem Indie-Label erschienen ist und mehr mit dem Punk als dem Mainstream liebäugelt, erinnert an Johnny Cash, aber letzterer posiert auf seinen immer mehr auf Roots getrimmten Werken dann doch lieber standfest und im direkten Augenkontakt mit dem Betrachter.

Beide, Waits wie Cash, haben sich immer mit Themen befaßt, die das arbeitende oder obdachlose Volk beschäftigen. Cash landete damit mehrfach im White House und ließ sich von Präsidenten beklatschen, Waits blieb lieber außen vor. Vielleicht wirkt er deshalb wie kurz vorm Abkippen, aber er fängt sich. Im Booklet zur CD strauchelt er bräunlich auf den Fotos herum, die Starfotograf Anton Corbijn geknipst hat – der Experte in Sachen Captain Beefheart alias Don Van Vliet.

Waits wie gehabt ist das nicht, zumindest nicht ganz. Der Ex-Beatnik, der 1973 mit einem an Kerouac, Burroughs und Sinatra orientierten Debüt irritierte, hat sich für die neueste Boheme entschieden: Ein paar junge Turntable-Experten und Programmierer wirken mit auf „Mule Variations“. Waits rettet die Hobo-Attitüde ins nächste Jahrtausend, obwohl oder weil Amerika keine echten Hobos mehr hat.

„Hobos – das waren Leute, die auf Züge aufsprangen, um in den Metropolen der Autoindustrie im Norden zu jobben, dann wieder zur Ernte in den Süden reisten, alles ohne Ticket, verfolgt von den Pinkertons oder anderen Kontrolleuren der Eisenbahnen.“ Tom Waits ist in seinem Element, wenn er über früher redet. Der auf die 50 zugehende Familienvater hört kaum noch zeitgenössische Musik, es sei denn, seine musikalischen Freunde und Mitarbeiter schicken ihm mal eine CD. „John Lurie, Marc Ribot, Charlie Musselwhite – das kriege ich mit. Aber von dem, was in den Charts abläuft, habe ich keine Ahnung.“ Selbst im Jazz kennt Waits sich nicht mehr aus, kokettiert damit, was für ein bornierter Typ er ist.

Nicht nur die Freunde schicken. Auch von seinem neuen Label, das u. a. das in Mississippi ansässige Blueslabel Fat Possum vertreibt, hat Waits ein paar Alben bekommen, und einige davon schätzt er gewaltig. Zum Beispiel die des Roots-Bluesmannes R.L. Burnside, bei dessen Drone-Trance man immer noch glauben könnte, der Blues sei Teufelsmusik. Aus solchen und älteren Quellen bezieht Tom Waits seine Inspiration: „Ich höre eigentlich viel mehr alte Musik als neue. Gospel, alten Blues, Worksongs. Sachen, die Lomax vor Jahrzehnten aufgenommen hat.“

Die Lomax-Collection, hierzulande über Rounder/in-akustik erhältlich, und Platten aus dem Repertoire des Smithsonian Institute (Vertrieb: Koch) kann Waits stundenlang genießen: „Hillbillies wie Dock Boggs, Roots-Bluesmänner wie Fred McDowell, die haben mit ihrer Musik viel Einfluß auf mich.“

Offensichtlich nicht nur die Musik, denn Waits setzt in den Songs von „Mule Variations“ auch auf Metaphern, die im Blues seit den dreißiger Jahren für Endgültigkeit sorgen. „Get behind the Mule“ bedient sich des Haustieres als Beruhigungsmittel: „Lauf hinter dem Muli her, laß es den Acker pflügen, und du kommst auf angenehm schläfrige Gedanken!“ Statt krumme Dinger zu drehen, müht man sich redlich auf dem Felde ab – ist das die Botschaft? „Natürlich nicht. Ich missioniere nicht. Ich erzähle von einsamen Leuten, von Menschen, die an den üblichen Erfolgsmaßstäben nicht zu messen sind, ich nehme auch mal ganz gerne das amtliche Amerika aufs Korn. ,Get behind the Mule' erzählt ein wenig über die zuverlässigen Freunde, die man haben kann, und dazu zählen Tiere. Ich könnte natürlich auch ein Flugzeug wählen oder einen Helikopter, aber damit wäre der Song gestorben.“

Wenn Charlie Musselwhite oder John Hammond zu Waits' Songs ihre Mundharmonikas auspacken, ist die Nähe zu den amerikanischen Roots garantiert. Die Struktur mancher nur mit dem notwendigsten Instrumentarium eingespielter Titel bedient sich direkt bei den Tricks der Altvorderen, und doch bleibt der Zugang eigenwillig.

Darüber kann Charlie Musselwhite muntere Geschichten erzählen. Er und Waits kennen einander schon seit den Siebzigern, „als wir beide noch ordentlich gesoffen haben. Deshalb kann ich nicht genau sagen, wie lange wir uns schon kennen“, grinst Musselwhite.

Musselwhite ist einer der ersten weißen Musiker, die sich in den letzten großen Tagen des Chicago Blues an die Füße von Legenden wie Howlin' Wolf oder Muddy Waters hefteten, um den Blues zu lernen. Er ist wie Tom Waits inzwischen fleißig arbeitender Familienvater und hat die Großstadt verlassen, um sich im nordkalifornischen Hügelland niederzulassen, ganz in der Nähe von Waits und seiner Familie. „Wir treffen uns gelegentlich mit unseren Frauen und Kindern zum Essen. Es geht schön behaglich zu. Als Tom mich fragte, ob ich auf seinem Album mitmachen wollte, habe ich natürlich sofort zugesagt. Es war ein echtes Abenteuer.“ Als Musselwhite einen Harmonika-Part verpatzte, weil der Sound sich bedrohlich verzerrte, und den ganzen Take noch einmal einspielen wollte, bestand Waits darauf, ihn zu belassen, wie er hereingekommen war. „Ich war ziemlich verblüfft, aber so ist er nun mal. Tom hat sogar einen Hahn, der zwischendurch gekräht hat, aufgenommen.“

Noch schlimmer: Junge Verehrer liefern ihm Sounds vom Turntable, andere drehen an Computerknöpfen, und dann stellt auch noch einer ein paar Samples in den Raum. Aber all das hat Waits sich selber ausgesucht, und der alte Sinatra-Fan redet inzwischen auch ganz begeistert über Rap.

Waits sammelt außerdem seltsame Instrumente. Polizeituten, Megaphone, Eisenbahnsirenen, orientalische Zupfdolls wie Saz und Dschümbüz. Er sampelt Geräusche, besonders gerne in Hotelzimmern fern von der Familie. „Das ist auch ein Versuch, meine eigene Einsamkeit zu überbrükken. Beziehungen sind jedem wichtig, Familie, Freunde, aber die Öffentlichkeit, in der ich als Musiker stehe, ist keine Beziehung. Die Öffentlichkeit ist das Gegenteil einer Beziehung. Der Öffentlichkeit ist es egal, ob du zur Hölle gehst. Es ist allenfalls eine gute Story wert. Ich bin ein Image, und damit verdiene ich Geld. Aber deshalb bin ich noch lange nicht dieses Image.“

Außerdem hat Waits eine Kontrollinstanz, die ihn vor zu viel öffentlicher Neugier schützt. „Kathleen Brennan ist nicht nur meine Frau. Sie schreibt mit mir Songs, sie denkt mit mir nach. Wir studieren den Fußboden, wir schauen auf komische Alltagsdinge, und plötzlich haben wir Ideen. Wir gucken nach Straßenmusikern, die machen die beste Musik der Welt, weil sie tagtäglich ihr Publikum einfangen müssen. Und irgendwann, nach ein paar Monaten oder Jahren, haben wir ein neues Album für uns gefunden. Und dann hoffen wir, daß es ein paar Leute interessiert.“

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