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Tiefes Schlummern

Der Philosoph und Nationalismusforscher Ernest Gellner über das Zusammenfallen von Kultur und Macht  ■ Von Harry Nutt

Vom Amselfeld war viel die Rede, seit die Nato Luftangriffe auf Restjugoslawien fliegt und der Machthaber Milošević systematisch die albanische Bevölkerung aus dem Kosovo vertreibt. Das Amselfeld ist in diesem Zusammenhang weniger Ort eines historischen Ereignisses als das Gründungsterrain eines nationalen Mythos. Wer hierzulande Amselfeld sagt, meint in der Regel ein undurchdringliches Dunkel, aus dem heraus nichts entsteht als Balkanwirren.

Für den serbischen Nationalisten hingegen ist das Amselfeld heilige Erde, aus dem er die Nahrung seines Nationalgefühls zu beziehen glaubt. Nationalistische Pathosformeln, so scheint's, kommen tief aus der Erde oder liegen weit zurück in der Zeit. Kaum eine nationalistische Bewegung, die nicht einer eigenen Art von Schlummertheorie anhängt, der zufolge eine tief verwurzelte Tradition nach Jahrhunderten zu ihrer politischen Blüte gebracht werden muß. Was nach Natursymbolik und Volksmusik klingt, tritt nicht selten mit Terror und Gewalt auf.

In seinem letzten, nicht mehr ganz fertiggestellten Buch zeichnet der große, in Prag geborene Philosoph und Universalgelehrte Ernest Gellner, der 1995 im Alter von 70 Jahren starb, eine Skizze nationalistischer Ideen mit schwungvollem Strich. Dabei kommt es ihm nicht zuletzt darauf an, das Beharren auf traditionellen Beständen als faulen Zauber zu enttarnen. Die Sehnsucht der Nationalisten nach zeitlicher Ferne ist der Einbildungskraft geschuldet, das Nationale ist zu großen Teilen eine literarische Erfindung.

Politisch ist der Nationalismus ein Kind der Moderne, das nicht ohne die Produktivkräfte der Industrialisierung hätte geboren werden können. Noch das politische System, das mittels des Wiener Kongresses 1815 eingeführt wurde, kannte in seinen Organisationsprinzipien keinerlei Nationalismus. Die politische Landkarte wurde ohne Rücksicht auf ethnische Zugehörigkeiten gezeichnet, während die großen europäischen Nationen, so Gellner, das Glück hatten, die Einheit von Kultur und Staat in einem langen, allmählichen und organischen Wachstumsprozeß zu erlangen. Die Basis für das Zusammenleben in einer „grand nation“ ist nicht die Bewahrung und Erinnerung der Traditionsbestände, sondern ein Prinzip des Vergessens. „Der Durchschnittsfranzose weiß, daß er Wein trinkt, einen Orden besitzt und sich in der Geographie überhaupt nicht auskennt. Dies ist in der Tat die verbreitetste Definition eines typischen Franzosen, auf die sich sogar die Franzosen selbst berufen. Aber dieser typische Franzose weiß nicht, ob er von den Galliern, Bretonen, Franken, Burgundern, Römern, Normannen oder sonstwem abstammt.“ Aber genau diese Wolke der nationalen Unwissenheit habe, so Gellner, Frankreich zu dem gemacht, was es ist. Nicht alle hatten zur Ausbildung eines Nationalgefühls soviel Zeit wie Franzosen und Briten.

Mit der Eleganz eines leidenschaftlichen Wissenschaftlers und der Präzision eines großen Erzählers beschreibt Gellner die europäischen Nationalismen mit Hilfe eines Zonenmodells. Staat und Kultur gehen bei der Nationalstaatsbildung eine Art Eheverhältnis ein, das in den verschiedenen europäischen Zonen auf unterschiedlichen Voraussetzungen basiert. Für die großen Nationalstaaten im Westen Europas gilt, daß „die Eheleute hier schon seit langer Zeit durch eine gewohnheitsmäßige Partnerschaft verbunden sind“. Und irgendwann konnte geheiratet werden. In der Zone zwei warteten zwei prächtige Bräute vergeblich auf den Bräutigam. Deutschland und Italien verfügten über ausgebildete Hochkulturen (die Braut) mit weitgehend einheitlichen Nationalsprachen, aber es kam nicht zur Staatsbildung. Die sogenannten verspäteten Nationen waren mangels Liebesbeziehung mit ihren Eheverträgen nicht glücklich, was historisch fatale Folgen hatte. Die Metapher vom Nationalismus als Ehe verliert ihren Charme, je weiter man auf der Landkarte nach Osten kommt. „In Osteuropa gab es alles in allem weder national geprägte Staaten noch nationale Kulturen. In der Sprache unserer Metapher heißt das: Weder der Bräutigam noch die Braut waren verfügbar.“ Eheschließungen kommen hier fast ausschließlich mit der Verbreitung von Schrecken zustande. „Unter Bedingungen“, schreibt Gellner, „wie sie auf dem Balkan, im Kaukasus, am Wolgaknie, in großen Teilen Zentralasiens und in vielen anderen Regionen der Erde vorherrschen, können kulturell homogene Nationalstaaten, wie sie die nationalistische Theorie für geschichtlich unabdingbar hält, nur durch ethnische Säuberungen entstehen.“

Alle Formen des Nationalismus sind mit Fragen des eigenen Ursprungs beschäftigt, und so stellt Gellner die Frage nach dem Nabel der Nationen. Hat der Volkskörper ein Mal, an dem der Vorgang der nationalen Geburt noch sichtbar ist? Gellners Marotte für einfache Metaphern geht einher mit großer historischer Klarheit. „Manche Nationen haben einen Nabel, andere müssen ihn sich erkämpfen, wieder anderen wird er einfach angedichtet. Diejenigen, die über einen echten Nabel verfügen, sind wahrscheinlich in der Minderheit, aber das ist kaum von Belang. Wichtig ist es zu verstehen, daß die allgemeine Sehnsucht nach einem eigenen Nabel überhaupt erst durch die Moderne geweckt wurde.“

Gellners Essay ist das bewundernswert leicht geratene letzte Wort eines großen Geistes, das dazu beitragen kann, die Phantasmagorien der verschiedenen Nationalismen einer Therapierbarkeit zuzuführen.

Ernest Gellner: „Nationalismus, Kultur und Macht“. Aus dem Englischen von Markus P. Schupfner, Siedler Verlag, Berlin 1999, 184 Seiten, 34,90 DM

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