: Die Monster, nicht die Menschen
■ Ein synästhetischer Krimi von Carlo Lucarelli: „Der grüne Leguan“
An ihrem ersten Tag hatte Grazia Negro sich noch gefühlt wie Jodie Foster in „Das Schweigen der Lämmer“: Die junge Polizistin war zu einer Sonderkommission versetzt worden, die sich um Serienkiller kümmern soll. Jetzt ist sie zu ihrem ersten richtigen Einsatz geschickt worden, nach Bologna. Grazia soll einen Mörder finden, der seine Opfer erst entkleidet und sie dann grausam verunstaltet. Das ist kein Kino. Das ist echt, und es riecht auch so, stellt Grazia fest, als sie zu einem Tatort gerufen wird: „Durch den Türspalt hatte sie den süßen, intensiven und ekelerregenden Geruch wahrgenommen, wie von gekochter Marmelade. Den Geruch des Todes.“ Der italienische Autor Carlo Lucarelli überfällt seine Leser mit einem ganzen Bündel von Sinneseindrücken: Sein Krimi „Der grüne Leguan“ ist nicht aus Buchstaben und Worten zusammengesetzt, sondern aus Gerüchen, Farben und Geräuschen. Wie die Stadt Bologna, die Simone Martini sich Nacht für Nacht in sein kleines Mansardenzimmer holt. Simone ist von Geburt an blind. Mit einem umgebauten Radioempfänger lauscht er den Unterhaltungen, die die Bewohner seiner Stadt mit ihren Mobiltelefonen führen: Die Stimmen, die er hört, werden in seinem Kopf zu den Farben, die er nie gesehen hat. Dazu hört er leise Musik, am liebsten Chet Baker, und wartet, bis er auf eine Geschichte stößt. Eines Abends hört Simone eine Stimme, die ihm nicht gefällt: „Es ist eine grüne Stimme. Sie kriecht über den schiefen Kontrabaß, den man leise im Hintergrund hört, und kräuselt ihn wie Gänsehaut ... Es liegt etwas darin, das mich erschauern läßt, als wäre da noch ein anderer Ton, darunter, ein Gemurmel in den Pausen.“ Simone, der Ich-Erzähler des Romans, hat den Mörder sprechen gehört. Er ist Grazias einziger Zeuge, und der Blinde und die Polizistin machen sich gemeinsam auf die Suche: nach einer grünen Stimme.
Carlo Lucarellis Figuren müssen wie die schroffe Grazia nur einen Satz sagen, dann sieht man sie schon vor sich stehen: „Ich habe sämtliche Fortbildungen in Psychologie mitgemacht, aber mich interessieren nicht die Menschen. Mich interessieren die Monster.“ Doch gleichzeitig gibt es noch etwas anderes: Musik. Eine Musik, die leise und unheimlich in einem nachklingt. Man hört sie, wenn man während des Lesens für einen kurzen Moment die Augen schließt und in das Buch hineinlauscht, so wie der blinde Simone Martini in die Nacht hineinlauscht: „Formen interessieren mich nicht besonders“, sagt er dann, „ich kenne sie nicht.“ Kolja Mensing
Carlo Lucarelli: „Der grüne Leguan“. Aus dem Italienischen von Peter Klöss. DuMont Verlag, Köln 1999. 206 Seiten. 38 DM
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