: Der Griff in den Zauberkasten
■ n Was ist Anthroposophie? Einige kurze Antworten auf eine nicht ganz einfache Frage.
„In 50 Zeilen geht das nun wirklich nicht.“ So lautete die erste Reaktion auf unser Ansinnen, in aller Kürze den Begriff „Anthroposophie“ zu definieren. Ein paar Mutige – „Laien“ und „Experten“ – versuchen es dennoch:
Anthroposophie ist der große Zauberkasten. Man gebe Religion hinein – es kommt ein Begriffsapparat heraus. Man möchte tanzen – und bekommt Gymnastik mit genau vorgegebenen Schablonen. Erhellendes über die großen Persönlichkeiten der Geschichte? Jetzt kennen wir die vorherigen Inkarnationen Goethes und wissen, was aus dem armen Alexander dem Großen wurde. Warum „der Neger“ so ist, wie er nun mal ist? Hat er echt keine Schuld, liegt am Kochen der Sonne.
Alles wird aus seinem Zusammenhang gerissen und in einen anderen gestellt. Das Publikum staunt und jubelt. Hineingreifen in den Kasten durfte zu seinen Lebzeiten nur der Zauberdoktor Rudolf Steiner und jetzt die obere Riege seiner Nachfolger. Wehe dem, der diesen heiligen Zinnober nicht vollständig begreifen kann! Dann ist Schluß mit der toleranten Gesinnung! Die Public-Relations steht perfekt. Schade, daß die taz da mitmachen muß.
Reinhard Karst (Bruchsaal)
Anthroposophie ist ein Werkzeug, das der Selbstverständigung dienen möchte. Sie beginnt als Versuch, sich der jeweils eigenen Entwicklungs- und Freiheitsfähigkeit durch seelische Beobachtung zu vergewissern und sie im Handeln aus individueller Einsicht zu üben. Sie gibt neue Impulse sozialer Praxis – von der Waldorfpädagogik über biodynamischen Landbau bis zum Bankwesen. Sie möchte Gesellschaftsstrukturen durchlässig machen für praktizierte Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit.
Als Erkenntnisweg kann sie als eine zweite – spirituelle – Aufklärung betrachtet werden. Sie ist das Bemühen, das in der ersten Aufklärung gewonnene Bewußtseinslicht des individuellen Denkens zum Sinn für die überphysischen Aspekte menschlicher Existenz und das in allem Dasein verborgene Göttliche zu steigern.
Anthroposophie ist durchaus keine Sammlung fertiger Wahrheiten, vielmehr ein Projekt, das durch eigenständige Erkenntnissuche von Individualitäten lebt. Zugleich ist sie unlösbar mit ihrem Begründer, Rudolf Steiner, verbunden. Dessen Werk ist vielen noch unbekanntes Terrain. Man lasse sich die Entdeckerfreude nicht deshalb nehmen, weil nicht alle seiner Anhänger überzeugen.
Christoph Strawe (Sozialwissenschaftler und Autor, u.a.: „Anthroposophie und Marxismus“)
Anthroposophie ist eine Lehre mit zwei Gesichtern. Das nach außen gewandte zeigt die von aufgeschlossenen Bildungsschichten gern angenommenen, traditionellen wie innovativen Ansätze mit biodynamischem Landbau, ganzheitlicher Medizin, alternativer Pädagogik und kulturell-musischer Schwerpunktsetzung – alles getragen vom tätigen Engagement im Geiste der anthroposophischen Weltauffassung. Dieser Geist aber, das zweite Gesicht der Anthroposophie, bleibt der Öffentlichkeit meist verborgen – bzw. wird mit sorgsam gewählten Akzeptanzbegriffen umschrieben. Kritische Einschätzungen werden in den Bereich der Vorurteile verwiesen.
Die Anthroposophie speist sich aus einem esoterischen Hintergrund, dem Glauben an eine rationalisierte Mystik, die sich mit „höheren Welten“ in Verbindung weiß. Unter Umgehung der erkenntnistheoretischen Relativierungen der Moderne haben hier Geister und Engel, Astralleiber, Rassen und Entwicklungsmythologien ungebrochen ihren Platz. Verbunden mit einer übersteigerten Fixierung auf den Glaubensgründer Steiner erweist sich die „Geisteswissenschaft“ der Anthroposophie als ein System sektenhafter Enge. So sucht die Anthroposophie die Öffentlichkeit und scheut sie doch zugleich. Der einzige Hinweis Steiners, dem nicht nachgegangen wird, ist der, daß er irren könnte. Durch den daraus zu gewinnenden, offenen Blick könnte die Vielfalt der Lehre deutlich werden. Bislang gedeiht das „freie Geistesleben“ jedoch nur, weil es keines ist.
Alfred Kolberg (schrieb über „das öffentliche Bild der Anthroposophie“ im „tazThema: Anthroposophie“ v. 9. April 98 )
„Anthroposophie“ kurz erläutern – was eine prima Idee! Wer versteht's besser und outet sich packender, Experte oder Laie? Zweifellos liegt die Chance des Versuchs in seiner Kürze: Ist es nicht jenes steckengebliebene Projekt zur Weltbeglückung? Dann, mit zunehmender Länge, droht jedem Erläuterungsansatz die geistige Umnachtung, die Maschine wird okkult und versteinert, und ewig lacht das Unsichtbare.
Sieh‘ den Anthros bei Arbeit, Sport und Spiel zu, könnte man da raten. Zumindest hat der „anthroposophische“ Blick auf die Welt und uns selbst den Reiz, mal vertraute Wahrheitsgewohnheit, mentale Standards fremd wirken zu lassen. Wind durch's Fenster.
Andreas Kahler (Berlin)
Anthroposophie ist eine besondere Handhabung des Denkens. Jeder Gedanke, alles Denken ist auch eine reduzierte, unanschaulich gewordene Projektion geistiger Wirklichkeit. Fragende Gedanken, falsche oder richtige: Sie sind – so wage man einmal zu denken – tatsächliche Reflektionen geistiger Gegebenheiten. Wie muß man mit dem Denken umgehen, damit sich intellektuelle Anschauung entwickelt?
Die Erfahrung zeigt, daß sich der Horizont des Intellekts durch Aufmerksamkeitssteigerung erweitern läßt. Durch Konzentration und Meditation fördert man seine Fähigkeit zu seelischer Beobachtung. Das Denken sehend machen und Schauerfahrungen in Gedankenimpulse umzuwandeln, das ist die Aufgabe der Anthroposophie. Gezielt Schnittstellen von Denken und sogenannter übersinnlicher Erfahrung zu erzeugen, dafür ist gerade das anthroposophische Gedankenmaterial – unter anderen – gut geeignet. Denn dafür wird es gemacht.
Handhabt man es anders, nimmt man Anthroposophie als „Lehre“, Theorie, fertige Deutung oder bloße Aussage, zerstört man sie durch ihr eigenes Material. Deshalb trifft man Anthroposophie wohl auch regelmäßig in der Gestalt ihres eigenen Scherbenhaufens an. Aber das ist völlig in Ordnung; sie ist schließlich Übermaterial.
Martin Barkhoff (Medienbeauftragter der Anthroposophischen Gesellschaft)
Auch die Ungläubigen dürfen die Anthroposophie-Seiten in der taz kommentieren – wie schön! Es hat mich schon immer gewundert, warum ausgerechnet dieser Glaubensgemeinschaft regelmäßig Seiten zur Verfügung gestellt werden. Ich habe mich damit getröstet, daß dies wohl hauptsächlich der Anzeigen wegen geschieht – aber, mal ehrlich: Würden die Katholiken nicht auch was springen lassen? Vielleicht habt Ihr aber auch recht mit Eurer diesbezüglichen Zurückhaltung, denn leider ist der Katholizismus ja immer noch ein Glaube ohne eigene Salbenfirma.
Peter Henningsen (Heidelberg)
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