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Der leibhaftige Festkörper

Am Sonntag ist Bundespräsidentenwahl. Die Kandidatin der Union, Dagmar Schipanski, sieht sich als Kontrastprogramm zu Johannes Rau. Die Physikerin hat das aufzuweisen, was dem SPD-Mann fehlt: Sie ist eine Frau und aus dem Osten. Nur in ihrem politischen Programm findet sich davon nichts.  ■ Ein Porträt von Dieter Rulff

ignal der Einheit“ nennt der CDU-Vorsitzende Wolfgang Schäuble seine Präsidentschaftskandidatin. Es sei an der Zeit, sagte Dagmar Schipanski zu Beginn und zur Begründung ihrer Kandidatur, daß sich jemand aus dem Osten Deutschlands für das Amt des Bundespräsidenten bewerbe, „daß wir unsere Stimme einbringen, von uns aus“. Nun ist nicht jede Stimme des Ostens unbedingt ein Signal der Einheit.

Gut dreihundert Mal tourt Schipanski in diesen Wochen von Veranstaltung zu Interview, von Podiumsdiskussion zu Talkshow, stets bemüht, den gewünschten Gleichklang zu erzielen.

„Was nun, Frau Schipanski“. Der ZDF-Redakteur Thomas Belluts will von der Bewerberin um das Präsidentenamt eine Erklärung für die in Ostdeutschland dominierende Ablehnung der Nato-Luftangriffe in Jugoslawien. Zwei verschiedene Grunderfahrungen konstatiert Schipanski in Ost und West. „Auf der anderen Seite des Eisernen Vorhanges“ habe die Präsenz militärischer Gewalt die Angst vor Gewalt befördert, man habe verinnerlicht, daß Frieden ein hoher Wert sei. Daraufhin argwöhnt Belluts, ob sie damit etwa die Gewalt des Warschauer Paktes und der Nato gleichsetzen wolle.

Hat die DDR-Bürgerin zwar, darf die Präsidentschaftskandidatin aber nicht und bittet um Nachsicht mit der DDR-Bürgerin. „Sie können nicht alles von heute auf morgen anders sehen, sondern müssen sich bemühen, das aus der Vergangenheit heraus zu betrachten. Wenn sie unter Einwirkung von Gewalt stehen, reagieren sie auf Gewalt anders.“

Doch Belluts will nicht aus der Vergangenheit heraus betrachten: „Schröder sagt: Aus Nato-Raison muß Staatsraison werden!“ Für einen kurzen Augenblick werden die kleinen Augen noch kleiner. „Richtig“, bescheidet die Präsidentschaftskandidatin knapp und schiebt, um den Anflug des Zweifels aus Belluts verdatterter Mine zu wischen, noch ein „Wir müssen zur Bündnistreue stehen“ nach.

„Man muß aufpassen, was man sagt“, erkannte Dagmar Schipanski nach den ersten Erfahrungen auf ihrer Bewerbungstour, „alles kann gegen einen verwendet werden.“ Es ist diese ein DDR-Leben lang eingeübte Vorsicht, diese Fähigkeit, das Gefragte in das einzufügen, was gehört werden will, mit der es der Professorin gelingt, das Nachbohren des ZDF-Mannes zu parieren.

Dagmar Schipanski paßt auf.

Sie paßt in einem Maße auf, das ihren öffentlichen Auftritten jegliche Spontanität nimmt. So wie die Physikerin Schipanksi integrierte Schaltkreise entwickelte, indem sie Störquellen ausschloß, so lernte die Politikerin, Fehler zu vermeiden. Schnell.

Sprach sie sich kurz nach ihrer Nominierung noch spontan für die doppelte Staatsbürgerschaft aus, so erkannte sie bereits nach einem Tag – und einem Rüffel des CSU-Landesgruppenchefs Michael Glos –, daß dies kein geeignetes Mittel zur Lösung der Integrationprobleme sei. Fortan war keine unbedachte Äußerung mehr von ihr zu vernehmen.

Sparsam in der Gestik. Zurückhaltend in der Mimik. Gedämpft in der Rhetorik. Die Physikerin sitzt in den Talkshows wie ein leibhaftiger Festkörper, mit der gleichen äußeren Ruhe, mit der sie sich ansonsten wohl ihren Versuchsanordnungen widmet. Nur in den seltenen Momenten, in denen sie lacht, vermittelt sie einen Eindruck davon, welch ausgeglichen gemütlicher Mensch sich hinter der Frau verbirgt, die so geduldig und zugleich so angespannt Auskunft über ihre Einstellung zum Osten, zu Frauen und zur Wissenschaft gibt.

1.338 Wahlmänner und –frauen treten am Sonntag zusammen, um den neuen Bundespräsidenten zu wählen. Über 661 Stimmen verfügt die Regierungskoalition in der Versammlung, ein paar Mitglieder der FDP haben sich bereits für den Kandidaten der SPD ausgesprochen. Und so ist die einzig spannende Frage, ob Johannes Rau bereits im ersten Wahlgang oder erst im letzten, bei dem die relative Mehrheit reicht, das Rennen macht.

Wird Dagmar Schipanski gefragt, was sie zu solch einem aussichtslosen Unterfangen bewogen hat, so verweist sie zum einen darauf, das es gut sei, wenn es bei der Wahl eine Alternativkandidatin gebe. Zum anderen kokettiert sie mit der Erwartung, sie könne „vielleicht ja, die Bundesversammlung, die mich wählen muß, mitreißen“.

Mitreißend aber ist eines der letzten Attribute, mit dem man die Kandidatin belegen möchte. Und auch erscheint die staatsbürgerliche Selbstlosigkeit, mit der sie sich dem ansonsten alternativlos dastehenden Rau zur Seite stellt, nicht sonderlich glaubwürdig. Weshalb also tritt sie an?

Einfacher als die Motive der Kandidatin sind wohl die der Union zu umschreiben. Da war die Kritik, die innerhalb der SPD laut wurde, als im Herbst letzten Jahres die wichtigsten Staatsämter verteilt wurden. Zu kurz kamen mal wieder die Frauen und der Osten. Das Gemurre ob dieser Schwachstellen sozialdemokratischer Personalpolitik war der Nährboden, auf dem die Überlegungen der Union zu einer eigenen Kandidatin reiften. In Dagmar Schipanski wurde ein Komplementärmodell zu Johannes Rau gefunden. Ganz so, als wäre die Ausfüllung der Schwachstellen bereits die Erfüllung aller Erwartung an das Präsidentenamt.

Es bedurfte nicht unbedingt des dezenten und deshalb um so treffenderen Hinweises des Konkurrenten Rau, daß die Hälfte der Arbeit des Bundespräsidenten mit Außenpolitik zu tun hat, um die Frau aus der DDR in seinen Schatten treten zu lassen. Konnte sie doch – notgedrungen – an internationaler Erfahrung kaum mehr als ein wenige Monate dauerndes Praktikum in der sibirischen Provinz vorweisen. Auch andere, der Sympathie für Rau unverdächtige Politiker, äußerten sich bestürzt über die anfangs geringe Ahnung, welche die Kandidatin von dem angestrebten Posten zeigte.

Bislang gelang es Dagmar Schipanksi, dies nicht offensichtlich werden zu lassen. Ihr Glück, daß ihre Amtsbefähigung weniger auf öffentliches Interesse stieß als ihre Vita.

Die Union hat ihr zudem mit dem ehemaligen Staatssekretär Wighard Härtel einen Berater zur Seite gestellt, der sie vor Gesichtsverlusten zu bewahren wußte. Der Seiteneinsteigerin in die Politik ist in den letzten vier Monaten erstaunlicher Zuspruch zuteil geworden, der nicht allein mit dem landläufigen Überdruß am etablierten Personal, das Rau repräsentiert, begründet werden kann. Betrachtet man Dagmar Schipanski nicht als mögliche Präsidentin, sondern sieht in ihr vor allem die Botschafterin in eigener Sache, so wird dieser Zuspruch verständlicher, wenngleich so mancher Absender doch Verwunderung hervorruft.

Sie selbst bezeichnet die deutsche Einheit als „das Wunder meines Lebens. Ich kann lesen, was ich will, ich kann sagen, was ich will, ich kann reisen, wohin ich will.“ In die Freude über die Chancen, die sich dadurch ihr geboten haben, mischt sich nicht nur der Stolz, diese auch genutzt zu haben, sondern auch eine Verärgerung über all jene ihrer Landsleute, die angesichts dieses „Wunders“ in nostalgische Larmoyanz verfallen.

Sie selbst konnte mit der Wende endlich Professorin für Festkörperelektronik werden, ein Karrieresprung, der ihr zu DDR- Zeiten verwehrt war, da sie nie SED-Mitglied war. 1990 wird sie Dekanin ihrer Fakultät, 1994 Prorektorin, ein Jahr später Rektorin und 1996 zur Vorsitzenden des Wissenschaftsrates.

Dagmar Schipanski ist eine Leistungsträgerin und als Ostdeutsche das genaue Gegenstück dessen, was die PDS in ihrer Programmatik gern als Opfer der deutschen Einheit ausmalt. Von der SED-Nachfolgerin trennt sie ihre tiefe Abneigung gegen die ehemalige Staatspartei, die sie einengte und in ihrem beruflichen Fortkommen behinderte.

Dennoch war sie nach ihrer Nominierung bereit, auch das Gespräch mit der Bundestagsfraktion der PDS zu suchen. „Ich grenze mich zur PDS ab, diese Partei aber nicht aus“, lautete ihre Formel, mit der sie geradezu weizsäckersches Format bewies. Damit brachte sie die Postkommunisten in Verlegenheit und die eigene Partei gegen sich auf. Erstere grübelten, ob sie so eine unterstützen können, wo doch das Verbindende weniger in den politischen Ansichten als lediglich in der Herkunft läge. Letztere zeterten über die vermeintliche Aufwertung der PDS, die der Entlastung der SPD diene.

Schipanskis Bodenständigkeit in dieser Frage irritierte die Union. Ein Signal der Einheit im Schäubleschen Sinne war das nicht, doch die Stimme aus dem Osten mochte sich diesmal nicht abwürgen lassen.

Die PDS hat sich mittlerweile für eine andere Kandidatin entschieden, und so wird es für die Union wohl noch eine Zeit dauern, bis dieser Satz Normalität wird.

Ihre Äußerungen zur PDS sind eine der wenigen Anmerkungen, mit denen Dagmar Schipanski erkennen ließ, daß sie sich in die politische Gestaltung des Landes einmischen will. Ansonsten sind ihre Anregungen zu Gemeinsinn und Wertediskussion durchsetzt von dem Bemühen, sich in dem folgenlosen Rahmen zu halten, der normalerweise Sonntagspredigten eigen ist. Ihre Worte wollen keinen Ruck bewirken, sie sind kaum zu vergleichen mit den emphatischen Appellen einer Hildegard Hamm-Brücher oder den grüblerischen Gedankengängen eines Jens Reich, die 1994 ebenfalls aussichtslos in die Bundesversammlung gingen. Dagmar Schipanski ist eher der Typ der konservativen Bürgersfrau denn des aufgeklärten Citoyen. Sie propagiert nicht, sie verkörpert ein ostdeutsches Modell für das vereinte Deutschland. Von Dagmar Schipanski lernen, heißt Erfolg lernen. Dafür steht die Wissenschaftlerin aus Leidenschaft.

Sie lobt an der Physik, daß sie nicht ideologisch sei, und ist optimistisch, „daß wir noch ungeahnte Möglichkeiten in der Entwicklung neuer Techniken haben“. Gentechnik und Biotechnik müßten weiter ausgebaut, aber verantwortungsbewußt eingesetzt werden. Technikgläubigkeit könnte man ihr ob solcher Worte unterstellen, doch könnte man ihr auf diesem Feld die Kompetenz nicht abstreiten.

Die Professorin ist leistungsbetont. Sie spricht sich für eine Verkürzung der Studienzeiten aus und erteilt dem Idealbild eines „mit 32 Jahren auf Lebzeiten eingestellten Forschers“ eine Absage. Die Physikerin, die Marie Curie ihr Vorbild nennt, konnte ihre Karriere meistern, weil sich hauptsächlich ihr Mann um die Erziehung der drei Kinder kümmerte. Deshalb nennt sie als einen Grund für ihre Kandidatur, daß „man die Vereinbarkeit von Familie und Beruf als etwas Selbstverständlicheres ansieht“. Sie selbst glaubt allerdings nicht, „daß es möglich ist, daß sich beide Partner zur gleichen Zeit in ihrem Beruf verwirklichen und noch die Familie haben“. Wohl der Frau, die einen Mann wie den Landrat Tigram Schipanski zur Seite hat.

Die Feministin Alice Schwarzer ist davon angetan. „Kleine Mädchen können da lernen, daß sie nicht Hausfrau werden müssen, wenn sie Familie haben wollen, sondern trotzdem Karriere machen können.“

Kleine Mädchen können von Dagmar Schipanski auch lernen, daß Frauenförderung „ein Begriff ist, den ich nicht mag“, daß an der Frauenquote vor allem interessiert, „daß sie langsam zurückgenommen werden kann“. Sie selbst bekennt, daß sie lieber mit Männern arbeite, daß ihr Weg, Chancengleichheit zu erreichen, „etwas ungewöhnlich“ sei. Ihr komme es darauf an, „mit den Männern in Kontakt zu treten, mit ihnen gemeinsam zu besprechen, welche Möglichkeiten können wir eröffnen, damit Frauen gleiche Chancen bekommen“. Das sei günstiger, „als sich als Frau abzukapseln, sich zusammenzufinden und dann zu sagen, was wollen wir“.

Alice Schwarzer und auch der Deutsche Frauenrat wollen auf jeden Fall Schipanski. Die Zeitschrift Emma wünscht ihr „aus feministischer Sicht“ einen Achtungserfolg. Auch der westdeutsche Feminismus hat mittlerweile das Signal der Einheit verstanden.

Sparsam in der Gestik. Zurückhaltend in der Mimik. Gedämpft in der Rhetorik. So sitzt die Physikerin in den Talkshows.

In Dagmar Schipanski wurde ein Komplementärmodell zu Johannes Rau gefunden: Die Ausfüllung seiner Schwachstellen.

Die Kandidatin propagiert nicht – sie verkörpert ein ostdeutsches Modell für das vereinte Deutschland.

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