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Nackte Städte und Todesfelder

Was stimmt? Und spielt es überhaupt eine Rolle, das was stimmt? Drei aufschlußreiche und bewegende Fotoausstellungen in den Deichtorhallen  ■ Von Hajo Schiff

Die Mischung ist interessant und die Auswahl der Bilder bei einem Besuch kaum zu bewältigen: Die Nordhalle am Deichtor ist ab heute das Herz der ersten triennale der photographie in Hamburg. Neben einer digitalen Collage von Thomas Ruff begrüßt Michail Gorbatschow die Neugierigen am Eingang. Und neugierig muß man nicht nur sein, will man die über tausend Bilder gebührend betrachten – Neugier ist auch ein zentrales Thema dieser dreiteiligen Fotoausstellung. Denn sei es der menschliche Intimbereich oder ein fernes Planetensystem, die x-fache Vergrößerung eines Insekts, ein Bild von Molekülen oder das Einfrieren von Zeit beim Schuß eines Projektils durch eine Spielkarte: Die technische Apparatur hilft dem Menschen zu Einblicken in sonst verborgene Welten.

Doch ob das, was da als Bild am Ende serviert wird, überhaupt noch etwas mit der Realität zu tun hat, ist eine andere Frage. Denn mehr als je zuvor werden fotografische Abbilder manipuliert, umgebaut oder gleich ganz mittels digitaler Techniken erzeugt. Und das ist keineswegs immer so leicht zu erkennen wie bei Michail Gorbatschow: Ihm wurde beim offiziellen Foto für die Amtstuben der UdSSR das berühmte Stirnmal einfach wegretuschiert.

Bei manchen Fotos werden die Manipulationen deutlicher – zumindest auf den zweiten Blick. Der freundliche, blonde, blauäugige Mann von Lee Jenkins dort drüben, hat er nicht ein TV-eckiges Auge? „Aber wenn ich das sage, ist das schon ein Tickchen zu stark – das Sprechen über Bilder hat immer etwas Problematisches“, erläutert Kunstsammler und Ko-Kurator Wilhelm Schürmann. Fast alle Arbeiten aus seinem Ausstellungsteil Wohin kein Auge reicht, stellen die Frage nach ihrer Glaubwürdigkeit, gleich ob sie von Künstlern gestaltet wurden, ob sie wissenschaftliche Zusammenhänge darstellen sollen oder ob sie aus dem Internet gefischt wurden. Marilyn Monroe auf dem Totenbett, das Rasenstück, auf dem die Leiche lag. Stimmt denn das alles? Oder stimmt das nicht? Oder spielt es überhaupt eine Rolle, ob das stimmt? Am Ende kommt es immer auf das an, was der Einzelne zu glauben bereit ist. Scheint es sicher, bei The Killing Fields, der perversen Porträtdokumentation der Opfer des Pol-Pot-Regimes, eine Galerie Todgeweihter zu sehen, ist es bei den Bildern aus dem Kosovo-Krieg eher zweifelhaft, ob sie ein aktuelles Geschehen dokumentieren oder bloß aus einem Werbefilm von Air Force, Navy oder Waffenindustrie stammen.

Doch so neu ist das Dilemma zwischen angeblichem Abbild und nur für sich stehender Abbildung nicht. Da gibt es ein handschriftlich auf den 19.4.11 datiertes und mit Ente auf der Mosel bezeichnetes kleines Bildchen, das doch nur eine graubraun verwischte Fläche zeigt. Historisches Dokument des Scheiterns oder ein moderner Fake? Es spielt wirklich keine Rolle mehr. Aber es ist ein gutes Argument gegen die Riesenabzüge des Wolfgang Tilmans, die zwar groß auftrumpfen, aber kein bißchen mehr Erkenntnis transportieren als die verschwundene Ente vor 88 Jahren.

Der zweite Teil der Ausstellung widmet sich ausdrücklich der digitalen Bearbeitung von Kunst- und Modefotografie. Da werden nach Lust und Laune die Bilder so verändert, daß der alte Streit zwischen „real abbildender“ Fotografie und „realitätsbildender“ Malerei beendet scheint: Beide Techniken führen gleichermaßen zu konstruierten Bildern. Und so ist es nur konsequent, daß Burkhard Schmitty seine Modemodelle vom Computer in die Form von Gemälden von Francis Bacon rechnen läßt.

Eine eigene Besprechung wäre notwendig, um die 250 Fotos von Usher Felling zu würdigen. Immerhin gehört der vor genau hundert Jahren Geborene zu den einflußreichsten Fotojournalisten des Jahrhunderts. Besser bekannt als „Weegee the Famous“ hat er in den 40er Jahren das nachtseitige Bild New Yorks wie kein anderer geprägt. In fünftausend Reportagen von Krimminalfällen hat er in zehn Jahren ebenso viele Kameras verschlissen und fünf Autos dazu. Dabei war er stets vor Ort, da er als einziger seiner Zunft schon damals ein mobiles Polizeifunkgerät offiziell benutzen durfte.

Sein 1945 veröffentlichtes Fotobuch Naked City machte ihn berühmt, nicht zuletzt, weil er mit dokumentarischem Voyeurismus Bilder machte, die ganze Geschichten in fast dämonischer Weise auf den Punkt brachten. Und Hollywood hat daraus seine Filmgeschichten gestrickt und deren Stimmung so verbreitet, daß die Originalfotos aus heutiger Sicht das Leben wie einen Set der Schwarzen Serie zeigen, auf dem gleich Bogart oder Cagney um die Ecke kommen. Der große Bildkreislauf schließt sich im Projekt von Isabel Heimerdinger: Sie hat aus Sequenzen von Filmklassikern die Akteure digital entfernt und zeigt nun simulierte Stills der Sets: Bühne frei für jedwede Phantasie.

Deichtorhallen, Nordhalle, alle drei Teile bis 5. September. Katalog „wohinkeinaugereicht“, 188 S., 39 Mark. Katalogbuch „Weegee's New York“, bei Schirmer/Mosel, 388 S., Duotone, 48 Mark. Symposion zur Auseinandersetzung mit dem Phänomen Sehen und/oder Wahrnehmen mit einem Soziologen, einem Wissenschaftsfotografen, einem Augenarzt und Ko-Kurator Wilhelm Schürmann: Sa, 5. Juni, 11 Uhr

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