: Die gröbsten Lügen sind aus der Welt geschafft
■ Wie ein Familienverbund entsteht: Søren Kragh-Jacobsens Spielfilm „Mifune“, der dritte Beitrag der dänischen „Dogma '95“-Ordensgemeinschaft, ist ein sehr ruhiger Film, fast beschaulich in seiner getreidegelben Ländlichkeit
Die Sonne lächelt mild auf die Scheunen und Kuhställe der kleinen Gemeinde herab, der Wind streicht übers Kornfeld. Hier draußen in der dänischen Pampa, wo man mit dem Auto eine halbe Stunde bis zum nächsten Briefkasten unterwegs ist, sieht man die Dinge ein bißchen anders als in Kopenhagen. Wenn in der Hauptstadt irgendein Gesetz beschlossen wird, heißt das noch lange nicht, daß man sich in Lolland auch in allen Punkten dran hält. Ähnlich ist es um die Dogmentreue von Søren Kragh-Jacobsen bestellt.
„Mifune“, der dritte Beitrag der dänischen „Dogma '95“-Ordensgemeinschaft, ist ein sehr ruhiger Film, fast beschaulich in seiner getreidegelben Ländlichkeit. Kragh-Jacobsen legt das Regelwerk der Kopenhagener Regisseursekte großzügiger aus als vor ihm Thomas Vinterberg (“Das Fest“) und Lars von Trier (“Idioten“). Würde nicht am Anfang das „Dogma“-Prüfzeichen eingeblendet, käme man wohl kaum auf die Idee, daß der Film aus demselben Stall stammt. Weil so gar nichts an die schlenkernde Kamera, den holpernden Ton und die schlechten Lichtverhältnisse der Vorgänger erinnert.
Hier gibt es sogar Einstellungen aus der Vogelperspektive, die von einer hydraulischen Hebebühne herunter gefilmt wurden, mit Stativ! Streng verboten! Vinterberg und von Trier hätten sich das nicht getraut. Die nahmen das Handkamera-Gebot ihres gemeinsamen Manifests noch hundert Prozent ernst (und sündigten in anderen Bereichen). Kragh-Jacobsen, gelernter Elektroingenieur und ehemaliger Leiter des Kinderfernsehens beim Dänischen Rundfunk, ist der Erneuerungsbewegung beigetreten, weil ihn seine letzten Big-budget-Produktionen schon beim Drehen ein wenig zu langweilen begannen. An verwackelten Bildern jedoch kann er „per se nichts Revolutionäres“ finden. Der 51jährige ist eine diskreter Geschichtenerzähler, kein Wahrhaftigkeits-Freak.
Wo Vinterberg in „Das Fest“ zeigt, was seine Protagonisten nicht sehen wollen, indem er den Figuren so nahe auf die Pelle rückt, daß hinter deren Ritualen und Versteckspielen eine – wenn auch nicht die – Wahrheit zutage tritt, glaubt Kragh-Jacobsen nicht an die Kamera als Instrument der Wahrheitsfindung. Aber auch seine Figuren sind damit beschäftigt, sich in Lügengebäuden voreinander zu verstecken.
Kresten (Anders W. Berthelsen), erfolgreicher Yuppie in Kopenhagen, kommt ursprünglich aus ärmlichen Verhältnissen in einem Kaff in Lolland. Seine großbürgerliche Frau, die sich auch beim Orgasmus recht überkandidelt aufführt, soll nicht erfahren, daß sein Vater zusammen mit Krestens geistig behindertem Bruder Rud (Jesper Asholt) in einer Bauernhof-Ruine lebt. Doch als der Vater stirbt, fällt Kresten die Verantwortung für den von Ufos und Samuraifilmen besessenen Rud zu. Kresten fährt nach Lolland und merkt bald, daß die Angelegenheit nicht damit getan ist, daß er nur kurz dableibt und Rud ein paar Samurai-Einlagen vorspielt. Eine Haushälterin soll her. Kresten, der karrierehalber unbedingt wieder nach Kopenhagen will, schaltet eine Anzeige. Und Liva (Iben Hjejle), die aus Kopenhagen weg will, antwortet. Daß sie ein Callgirl für gehobene Kreise ist und von obszönen Anrufen terrorisiert wird, verrät sie natürlich nicht.
Liva und Kresten verlieben sich ineinander, ganz langsam, ohne naturgewalthafte Eruptionen und die Überrumplungseffekte anderer großer Film-Lieben. Kragh-Jacobsen vertraut darauf, daß die Kraft dieser Liebe seinen Film trägt. In dem Moment, in dem Kresten sich für seinen Bruder verantwortlich fühlt, kann er auch für Liva etwas empfinden, die ihrerseits Verantwortung für ihren Sohn übernimmt. Ein Großteil ihrer Callgirl-Einkünfte floß bisher dessen Internatserziehung zu, jetzt holt sie ihn zu sich und erzieht ihn selbst. Was das verwöhnte Ekelpaket auch dringend nötig hat.
Am Ende sind die gröbsten Lügen und Geheimnisse aus der Welt geschafft. Und im Haus von Ruds und Krestens Familie, die nie eine war, ist ein Familienverbund entstanden: Der Yuppie, dem inzwischen alle Felle davongeschwommen sind, der Behinderte, die Hure, ihr im Wohlstand verwahrloster Sohn. Sie sind füreinander da.
„Mifune“ wurde innerhalb weniger Wochen im Winter gedreht, aber beim Zuschauen hat man oft das Gefühl, als ob ein ganzer Sommer an einem vorbeizieht. Es gibt Licht und lustige Momente, und einen Humor, der nicht dem Grauen abgetrotzt ist und den Ernst der Lage doch nie verrät. Die Wahrheit kommt ans Licht, weil die Figuren selbst es so wollen, nicht weil die Kamera es forciert. Nicht so evangelisch wie Vinterberg und nicht so katholisch wie von Trier. Ein ökumenischer Film. Wahrhaft undogmatisch.
Oliver Fuchs
„Mifune“. Buch und Regie: Søren Kragh-Jacobsen, mit Anders W. Berthelsen, Iben Hjejle, Jesper Asholt, DK 1999, 98 Min.
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