piwik no script img

Draußen Sommer, drinnen NATO-Bomben

■ Von wunderlicher Zartheit: „Eine Winterreise“ begeisterte in der Musikhalle

Es ist schon merkwürdig. Wilhelm Müller, Texter von Schuberts Die schöne Müllerin, schrieb unter den Titel der Verserzählung: „Im Winter zu lesen“, obwohl die Gedichte alle ersichtlich im und vom Grünen handeln. Donnerstag in der Musikhalle der umgekehrte Fall: Am Abend des ersten echten Hamburger Sommertags trugen der Bariton Matthias Goerne und der Pianist Alfred Brendel in der Musikhalle die Winterreise vor, Müllers zweiten Zyklus, der durch Schuberts Musik weltberühmt wurde.

Man wußte: Das Stück ist nur zum geringen Teil, wenn überhaupt, winterliche Stimmungsmalerei. Der Winter ist Metapher; nicht einmal die enttäuschte Liebe, die sich durch alle Verse zieht, ist das Grundthema.

„Fremd bin ich eingezogen“ – gleich am berühmten Beginn spürt, wer noch spüren kann, wie aktuell diese Musik ist. Ein einsamer Wanderer am Rand der Gesellschaft erlebt das politisch-psychologische Koma einer Zeit im Eishauch der Restauration. „Will dich im Traum nicht stören“, ruft er in Gedanken der schlafenden Angebeteten zu – der Sänger senkt für jene Worte die Stimme, wird leise, aber ungeheuer intensiv in Timbre und Farben – „wär schad um deine Ruh“ – Goerne ist, singend, ganz Ironie und Resignation. Aber bei „Was fragen sie nach meinen Schmerzen/Ihr Kind ist eine reiche Braut“ empört er sich, steigert zu dreifachem Fortissimo, das Vibrato bleibt silbrig-schnell und klug dosiert. Die Auflehnung in solchen Ausbrüchen fällt immer wieder zurück ins Zaghafte. Erstaunlich, wie gut Goernes' zu so wunderlicher Zartheit fähige Stimme trägt, wie mächtig sie gerade in ihrer Schattigkeit wirkt.

Alfred Brendel, der Prominentere, begleitet nicht nur, er entfacht, reibt sich und tritt ins Rampenlicht immer, wenn das Klavier nach Schuberts Willen allein erzählt, tanzt oder marschiert. Am Ende fassen sich beide bei den Händen und verbeugen sich im Jubel.

„Eine Winterreise“ zur rechten Zeit war das, anrührend schön und ziemlich merkwürdig. Sie paßte nicht zum Sommerwetter draußen. Aber zu den NATO-Bomben drinnen. Stefan Siegert

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen