piwik no script img

Der Zug ins grenzenlose Entertainment

■ In der „Zeit“ gibt es neuerdings Leben, und Leser und Redaktion des gräflichen Blattes müssen damit fertig werden. Aber wie nur?

Der Zeit-Leser in unseren Köpfen: Er hat einen Doktor- oder Adelstitel, jeden Donnerstag trägt ihm sein Butler die liebgewonnene hanseatische Wochenpublikation ans Bett. Bei einem Gläschen verschafft er sich einen ersten Überblick über das Weltgeschehen, danach portioniert er mit Hilfe eines bewährten Ablagesystems die Teile der Zeit für die Lektüre in der nächsten Woche. Vor drei Wochen dann der Schock: Da ist etwas, das paßt nicht ins Fach „Modernes Leben“, und für das Fach Zeitmagazin ist es zu groß: Das neue Ressort „Leben“, bunt, nicht aus Hamburg, vollgepackt mit Themen, von denen er noch nie gehört hat. Wie reagiert der Zeit-Leser: Verstört? Empört? Versöhnt? „Johann, ich möchte Ihnen eine Depesche an die Gräfin diktieren.“

Am Donnerstag erschienen also die ersten Leserreaktionen auf das neue „Leben“. Vorweg gesagt: Es ist unentschieden ausgegangen, mit leichtem Plus für die Kritiker. Sechzehn negative Briefe hat die Leserbriefredaktion gegen dreizehn positive gestellt, fünf finden das „Leben“ zwar gut, hätten aber gerne etwas geändert. Da sieht Herr Mowe aus Dortmund „den Zug ins grenzenlose Entertainment“ abgefahren, bittet Herr Ernste aus Arnsberg, den Lesern „die Entsorgung dieser bunten, wirklich überflüssigen Seiten“ zu ersparen, während sich Herr Krause aus Hamburg fragen muß, ob seine „solide Bekannte“ noch „ganz bei Trost“ ist. Dagegen möchte Herr Lennig aus Schwirzheim die Erstausgabe „für den Enkel aufbewahren“, und Herr Hartung aus Baunatal findet's einfach „,Leben'dig“.

Die Leserbriefe spiegeln auch die zwiespältige Haltung der Hamburger Zeit-Redaktion zum neuen „Leben“ wider. Für den starken Einfluß der skeptischen Stimmen aus der Redaktion spricht die Ankündigung, Dirk Kurbjuweit (bisher Politik) und Christian Ankowitsch (bisher Internet), dem Vernehmen nach zwei ausgewiesene Kritiker des neuen Ressorts, würden zum Jahreswechsel, wenn die Entwicklungsarbeit von Andreas Lebert abgeschlossen ist, die Redaktionsleitung des neuen „Leben“ übernehmen. Diese spaltungsüberwindende Personalentscheidung richtet das Augenmerk wieder auf das, was alle verbindet: Sie sind Zeit-Menschen, und als solche sehen sie Veränderungen in Politik und Gesellschaft, aber auch im eigenen Blatt, von einer ganz eigenen, quasi esoterischen Warte. Das zeigt sich, wenn Marion Gräfin Dönhoff beim kurzen Sammelpressetermin mit dem Außenminister über Grundwerte zu diskutieren anfangen möchte und sanft zum Tagesthema zurückgeführt werden muß. Das zeigt sich aber auch im Leserbrief von Frau Schaffarz aus München: „Find' ich's jetzt gut oder schlecht, das neue „Leben“? – Weiß noch nicht – abwarten – kommt ja wieder eins.“ Und während sie wartet, müssen wir – ups! – feststellen: Unser Bild des Zeit-Lesers taugt nichts mehr. Zwei davon haben sich doch tatsächlich per E-Mail gemeldet. Stefan Kuzmany

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen