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Auf die Zwölf

■ Electronic Easy Listening für den Hausgebrauch: Air Liquide präsentieren im Ostgut Konzeptmusik ohne roten Faden

Was sind Sie denn für einer? Dr. Walker hat seine Hand mit schmiedeeisernen Hardrockringen geschmückt, Totenköpfe und Nebelkrähen zieren seine Finger, er nennt das Kölner Liquid Sky sein eigen, er sammelt Synthesizer, er ist mehr so der gemütliche Typ. Wahrscheinlich ist er kein Arzt, er nennt sich nur so. Er ist Musiker, also darf er das. Ungefähr einmal pro Monat veröffentlicht er eine Platte, kein Mensch hat sie je gezählt. Platten, Platten, Platten, auf Mille Plateaux, Disko B oder Harvest, allein oder nicht, ambient oder geknüppelt, mal tanzbar, mal nicht, mal Acid, mitunter Big Beat, auch mal Electro. Die „16 Lovesongz For The Spice Girls“ von Walker & M. Flux waren 1998 samt eines vierfarbigen Pin-up-Booklets im Stil eines Russ-Meyer-Fiebertraums das schmierigste Beispiel einer lustigen Techno-Spätfolge. Dr. Walker ist auch jemand, der gern mal lacht.

Und der andere? Der heißt Cem Oral, nennt sich aber Jammin Unit, wohnt in Berlin, hat einen Bruder namens Khan in New York, ist gemeinsam mit Roger Kerosene Zulutronic und betreibt mit ihm nebenbei das Label Pharma. Ungefähr einmal pro Monat veröffentlicht er eine Platte, auch die hat kein Mensch je gezählt. Auf Harvest, Force Inc., Bullion oder wo auch immer. Mal ist es Electro, mal Acid, mal Dub. Zusammen mit Dr. Walker ist er Air Liquide. Geographisch gesehen, sind Air Liquide die Achse Köln – Berlin. Musikalisch betrachtet, haben Jammin Unit und Dr. Walker einen festen Gürtel locker um die jeweiligen Möglichkeiten geschnallt. Sie sind das dynamische Duo der elektronischen Musikproduktion, sie lassen nichts aus, und wenn doch, dann nur, weil sie es vergessen haben.

Früher standen sie mal für den Begriff „Intelligent Techno“, zwei Jahre hat es bis zu ihrer neuen Platte „Anybody Home?“ gedauert. Die Vorab-Single „Superfreaky“ war dann ein Schuß vor den Bug der Erwartungen. Sie setzten sich Afro-Perücken auf und behaupteten, sie seien Cameo. Obwohl sie natürlich Rick James waren, der behauptet, er sei George Clinton. Irgendwie klang das Stück also nach Prince. Komisch.

Sie nennen „Anybody Home?“ ihr Konzeptalbum, nur worin das Konzept besteht, können sie nicht sagen. Ab und zu trafen sie sich in diversen Studios, in Berlin, Köln oder dazwischen, haben sorglos ihre Maschinen angeworfen, produziert, den Kopf nachdenklich zur Seite gelegt, mal wieder eine Pause gemacht, dann ein Bier getrunken, weitergemacht, aufgehört, so ungefähr muß man sich das vorstellen. Irgendwann war die Zeit dann reif, sie hatten genug Material beisammen, haben es gesichtet, sortiert und nach einem verborgenen Prinzip angeordnet. Worin der roten Faden besteht, man weiß es nicht. Grob verallgemeinert hört man Electronic Listening für den Hausgebrauch, gegen Ende franst die Platte aus. Aber das ist eigentlich egal, denn live sind Air Liquide ein ganz anderer Träger Bier. Sie sind laut, sie stehen hinter ihren Maschinen, verkneifen sich alle Gimmicks und brettern gezielt auf die Zwölf. Immerhin gilt es, ihre Record-Release-Party zu feiern.

Harald Peters

Air Liquide, Rok und Cora S.: im Ostgut, heute ab 23 Uhr, Mühlenstr. 26 – 30

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