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Normalzeit

Echt kriminell!  ■ Von Helmut Höge

In Rousseaus „Bekenntnissen“ wird – im Zusammenhang seines „Gesellschaftsvertrags“ – ausführlich ein Apfeldiebstahl des jungen Jean-Jacques diskutiert. Man warf Rousseau später vor, diese minikriminelle Verfehlung nur aufgebauscht und dafür seine größeren Verbrechen verschwiegen zu haben: Zum Beispiel die, daß er seine Kinder in ein Heim abschob. Ein Widerhall dieses umstrittenen Apfeldiebstahls findet sich noch in der sowjetischen Revolutionsliteratur – beispielsweise im berühmten „Tagebuch des Schülers Kostja Rjabzew“ 1923 ff. von Nikolai Ognew.

Hier diskutieren Kostja und seine Freundin Sylpha, ob sie den Jungpionieren erlauben sollen, Äpfel zu klauen. Ebenfalls vor dem Hintergrund eines neuen „Gesellschaftsvertrags“: Wenn der Obstgarten privatisiert (verpachtet) ist, darf man es, als Volkseigentum ist er jedoch tabu. So ist in etwa auch meine eigene Position heute.

Aber auch in dem „Tagebuch“ wird viel verschwiegen. In den soeben im Maro-Verlag erschienenen Bekenntnissen des Ostberliner Schriftsetzers und Kabarettisten Falko Hennig „Alles nur geklaut“ heißt es über seinen Vater, einen Geographie- und Sportlehrer: „Er stahl alles, was nicht niet- und nagelfest war, wenn er mit einem riesigen Netz Volleybälle oder einem Stapel Sporthemden das Schulgelände verließ, sagte er: ,Erich Honecker hat gesagt, aus unseren volkseigenen Schulen und Turnhallen läßt sich noch viel mehr rausholen'“. Falko Hennig will damit nicht etwa andeuten, daß er unter schlechtem Einfluß stand und deswegen für seine kriminelle Karriere nichts kann. Er entschuldigt und rechtfertigt sie vielmehr überhaupt nicht mehr!

Rousseau und Rjabzew sind, weil verlogen, passé: Es gibt im Nawrockiismus keinen Gesellschaftsvertrag mehr, nicht einmal mehr „Gesellschaft“, wie Maggie Thatcher zu Recht bemerkte. Und statt Gesellschaftswissenschaft betreibt man nun Kulturwissenschaft. „Alles nur geklaut“ heißt also: Es geht in dieser Lebensgeschichte ausschließlich um Diebstahl – und deswegen haben wir es nur noch mit einem ästhetischen Problem zu tun, mit einem stilistischen.

Und das ist durchaus lebenspraktisch gemeint: Ihr, die ihr alle noch nicht aus den Reisegepäckversicherungen rausgeflogen seid, mit Dispokredit und Null-Flensburg-Punkten gesegnet, euch hat man bloß noch nicht erwischt, obwohl eure Verbrechen viel schlimmer waren, so schlimm, daß ihr euch nicht einmal traut, darüber zu reden! Dabei geht es bei echter Aufklärung immer um die Leichen im Keller. Jede Biographie und Lebenskunst müßte also unter dem Aspekt des Apfeldiebstahls aufgerollt werden.

Falko Hennig hat es gewagt. Die Wirkungsgeschichte seines neudeutschen „Klau-Buches“ (erinnert sei an das berühmte „Klau- mich“ der Kommune I) verspricht interessant zu werden, zumal seine lakonisch-knappe Erzählweise die „Radikalität“ nirgends proklamiert. Und doch ist es von vorne bis hinten Propaganda – in der Form einer Erfahrungswissenschaft. Der Autor ist viel und weit gereist, so daß bei seinen Verbrechen en passant auch noch jede Menge Systemvergleiche anfallen.

So stoppt man in Rumänien z. B. einen Zugkontrolleur, der deutsche Schwarzfahrer belästigt, indem man an seinen Patriotismus appelliert. In den USA ist man dagegen relativ fein heraus, wenn man sich als „Deutscher“ ausweist. Die Araber sind seltsamerweise viel pedantischer als die Israelis, und es gibt gravierende Unterschiede zwischen Mississippi und Louisiana... Dazu die erschütternde Erkenntnis: In den reichen Ländern ist das Leben billiger als in armen. Falko Hennig hat sich nicht geschont: seine Verbrecherlaufbahn, das war nie der gerade und einfache Weg.

Insbesondere gegenüber Polizisten, seinen unmittelbaren Gegnern, blieb er immer ganz aufrecht. So ist seine (“nicht-gescheiterte“) kriminelle Karriere auch und zugleich eine Vita aktiven Widerstands – vom Feinsten.

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