American Pie
: Der unsichtbare Mann

■ Basketballer Reggie Miller schwächelt gegen Lieblingsgegner New York

How that music used to make me smile

So wie die alten Gallier fürchteten, daß ihnen der Himmel auf den Kopf fallen könnte, die Bewohner von Kalifornien in Angst vor „The Big One“, dem großen Erdbeben, leben, und kleine Kinder die böse Stiefmutter aus Schneewittchen in Schrecken versetzt, so graust es den Fans des Basketballteams New York Knicks vor Reggie Miller. „Killer-Miller“ nennen sie ihn mit schauderndem Respekt, seit er ihr Team mit seinen zielsicheren Würfen in entscheidenden Phasen wichtiger Spiele gegen die Indiana Pacers des öfteren zum Wahnsinn trieb – und dies mit Vorliebe im Madison Square Garden, wo ihn die Schmähungen des Publikums zu besonderer Tatkraft anspornten. Legendär wurden seine acht Punkte binnen einer Minute, die 1994 ein so gut wie verlorenes Spiel noch kippten.

Um so verblüffender ist die erstaunliche Unsichtbarkeit der erprobten Knicks-Geißel in der aktuellen NBA-Halbfinalserie, auch wenn Millers Ineffektivität am Montag in Spiel 4, das die Pacers mit 90:78 gewannen, kaum ins Gewicht fiel. Diesmal waren es die Ersatzspieler Jalen Rose (19 Punkte) und Antonio Davis (16), die gemeinsam mit Chris Mullin (18) die Kohlen aus dem Feuer holten. Die Best-of-seven-Serie ist damit zum 2:2 ausgeglichen, doch Indianas Coach Larry Bird weiß genau, daß er beim heutigen Spiel 5 in Indianapolis und dem möglicherweise schon entscheidenden Auftritt in New York am Freitag ohne eine starke Vorstellung seines nervenstärksten Akteurs Probleme bekommen wird.

„Als ich noch nicht Trainer war“, erinnert er sich, „habe ich mal in der Zeitung gelesen, daß Reggie in einem Match nur zwölf Würfe hatte, und ich dachte: Wie wollen sie da gewinnen? Jetzt bin ich hier, und er wirft neun Mal.“ Vor allem in den letzten Vierteln war Miller, wie USA Today höhnt, „etwa so gefährlich wie Boomer“, das Maskottchen der Pacers.

„Ein Superstar hat den Ball zu bekommen“, rügt Bird, „und wenn er hinrennt und den Ball Mark aus den Händen reißt.“ Doch die Reggie-Flaute liegt nicht an Point Guard Mark Jackson und auch nicht an der – allerdings hervorragenden – Defense von Allan Houston, sondern an einer merkwürdigen Unentschlossenheit Millers. In Spiel 3 zum Beispiel habe er sich, wie er sagt, zurückgehalten, weil Center Rik Smits so gut drauf war. Eine Einstellung, die Larry Bird auf die Palme bringt. „Niemals“, antwortete er entrüstet auf die Frage, ob er in seiner aktiven Zeit bei den Boston Celtics jemals im Hintergrund geblieben sei, weil etwa Kevin McHale gerade einen Lauf hatte. Genauso sei es mit Michael Jordan gewesen. Scottie Pippen habe auch punkten können, „aber wenn es auf die letzten zwei Minuten ankam, wußte man, wer den Ball bekam.“

Reggie Miller ist drauf und dran, einen gehörigen Teil der Reputation zu verspielen, die er sich in langen Jahren erworben hat. Sollte Indiana die Serie gegen New York verlieren, dürfte der Schritt vom Superstar zum gewöhnlichen Basketballer, der nie was gewinnt, endgültig vollzogen sein. Dessen ist sich Miller durchaus bewußt, doch er scheint unfähig, etwas dagegen zu tun. „Ich weiß, daß ich aggressiver sein muß“, sagte er vor dem Montagsmatch, „ich muß 15, 20 oder sogar 25 Würfe nehmen, und ich denke, das wird in Spiel 4 der Fall sein.“ Pustekuchen. Es wurden wieder bloß zehn Würfe, von denen gerade drei trafen.

Den Sieg hatten die Pacers hauptsächlich der miserablen Trefferquote der etwas übereifrigen Knicks zu verdanken, die jede Menge Korbleger und offene Würfe versiebten, aber, angetrieben vom jungen Marcus Camby, erneut den engagierteren und energischeren Eindruck machten.

Die Laschheit, die sich bei seinem doch so erfahrenen Team vor allem gegen Ende einzuschleichen pflegt, ist Larry Birds größte Sorge. Als Paradebeispiel dient dem 42jährigen ein wichtiger Rebound, den sich Camby schnappte, während vier Pacers drumherum standen. „Soll das ein Veteranenteam sein“, schimpfte Bird, „ein Veteranenteam wäre hingegangen und hätte den Ball vom Korbrand gefressen.“ Da kann man Reggie Miller und Konsorten für Spiel 5 am heutigen Abend eigentlich nur noch guten Appetit wünschen. Matti Lieske