Ökonomische Partisanenkämpfe

■ Noten zu einer Art doppelten Buchführung des Wirtschaftslebens

Man registriert seit einigen Jahren einen zunehmenden „Braindrain“ – zu deutsch: Basisdruck. Analog zu den politischen Verwaltungen, die zunehmend wirtschaftlich gesteuert werden, orientiert sich auch der zukünftige Partisanenkampf primär ökonomisch. Der Avantgardist Kapielski berichtet zum Beispiel nicht unstolz, daß er und sein Kompagnon Butzmann sich einst die selbstgebastelten Musikinstrumente für ihre Steuererklärung nachträglich von einer fiktiven Herstellungsfirma in Rechnung stellen ließen. Dazu brauchten sie bloß einen Firmenstempel in Auftrag zu geben. Diesen setzten sie hernach als erstes von der Steuer ab.

Das war vor der Wiedervereinigung. Inzwischen fragt einen jeder Handwerker als erstes: „Auf Rechnung oder ohne?“ Natürlich sagt jeder: „Ohne“. Man spart dabei zwar viel Geld, aber hat damit den Schwarzen Peter zugeschoben bekommen. Denn für die Steuererklärung kann es gar nicht genug Belege geben. „Ich bin gerade mitten in den Quittungen!“ Diese verzweifelte Absage bekommt man immer öfter zu hören.

Der „Witz“ daran ist der zunehmende Zwang zur Doppelexistenz, denn einerseits nimmt das Steuerrecht immer drükkendere Formen an und andererseits wird die Einkommens-Kontinuität prekärer. Im Endeffekt balanciert sich der Steuerbürger zwischen Größenwahn und Nichtigkeitsgefühlen aus und kommt zu gar nichts mehr! Aus der aristokratischen Verschwendungshaltung (über seine Verhältnisse leben) ist ein postproletarisches „Muß“ geworden.

Berlin ist die Doppelexistenz-Stadt par excellence. Auch wenn die Wiedervereinigung alles vergeigt hat, hier ist immer noch das meiste doppelt: im Osten und im Westen gibt es jeweils dieselben Arbeitsplätze, Behörden, Institute, Uranias, Zoos, Kinos, Fußballzeitungen, Nationalgalerien, Opern, Operncafés usw., ja sogar – hier den Wannsee mit Booten, dort den Müggelsee mit Booten, und jeweils einem Teufelsberg mit einer Ökostation dran ...

Dieser ganze komplette Verdoppelungszauber hat im Endeffekt zu dem Ergebnis geführt, daß es auch alle Berliner zweimal gibt. So ist zum Beispiel die von der Filmerin Barbara Metzelaar porträtierte Museumsleiterin aus einer Ostberliner Boheme-Gruppe völlig identisch mit einer Westberliner Boheme-Flötenlehrerin: Sie sehen gleich aus, lachen gleich, haben die gleiche Frisur, dasselbe Einkommen usw. – und sind sich doch nie begegnet. Man weiß ja, daß die jungen Europäer, wenn sie im alten China leben (müssen), nach einiger Zeit alle schlitzäugig werden, aber daß es generell nur eine begrenzte Anzahl an Optionen für Lebensentwürfe auf einer bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungsstufe gibt, die dann auch überall gleich wahrgenommen werden, will uns nicht in unseren Individual-Schädel. Zumal dieser peinliche Alltags-Lamarckismus uns seinerzeit durch den Lyssenko-Schwindel ein für allemal diskreditiert schien. Wir haben Lyssenkos proletarische Wissenschaft zusammen mit der ideellen sowjetischen Gesamtphysiognomie zu vorschnell verspottet, vor allem Mitschurin, bei dem es sogar ein gärtnerisches Zögern vor Generalisierung und staatlichem Deduktionismus seiner Erfahrung gibt. Echter Lamarckismus braucht induktive Leidenschaft.

Der englische Botaniker Rupert Sheldrake spricht neuerdings von „morphischer Resonanz“ im Zusammenhang der formbildenden Kräfte: als immaterielle Felder gleicher Identitäten. Zur Verifizierung versucht Sheldrake sich an TV-Experimenten. In Amerika wird die identitätsstiftende Funktion des Fernsehens schon lange spielerisch genutzt: auf „Lookalike-Contests“. Die erste deutsche Lookalike-Agentur entstand in Berlin bereits vor der Wende. Über 2.000 Doppelgänger (von Prominenten) hat die Agenturchefin Frau Fieting in ihrer Kartei, sie selbst ähnelt seit ihrer Kindheit Liz Taylor an. Ihre Honecker-Look-Alikes kommen aus dem Osten, ihre Otto-Doppelgänger aus dem Westen, und alle, die der englischen Königsfamilie zum Verwechseln ähnlich sehen, stammen aus Großbritannien. Die morphischen Felder der Prominenz mit Vorbildfunktion wirken sich am stärksten auf die „Landsleute“ aus. Und das geht eben bis zur Physiognomie- und Geschmacksbildung – prägt totes wie lebendes Inventar. In Westberlin ist zum Beispiel die Kreuzberg-Kneipe „Pinox“ völlig identisch mit der Prenzlauer- Berg-Kneipe „Torpedokäfer“, erstere entstand aus der Hausbesetzerbewegung heraus, letztere aus der Ost-Häuserbewegung nach der Wende.

Die Personage ist vor und hinter der Theke jeweils identisch, da das „Pinox“ aber älter ist, weiß man schon, wie es mit dem „Torpedokäfer“ mal weitergehen wird. Um sich zu reattraktivieren, versucht das „Pinox“ es jetzt mit „Torpedokäfer“-Veranstaltungen. Von dem wohl berühmtesten aller freischaffenden Berliner Trinker, dem „Antinazi-Activist“ Oskar Huth, weiß man, daß es ihm mitunter gelang, in zwei Kneipen zur selben Zeit zu sein. Das meinte ich! Nur daß es sich jetzt immer um zwei real existierende Individuen handelt, die unter verschiedenem Namen laufen und dementsprechend auch versteuert werden. Daraus ließe sich mehr machen. Das heißt, es müßte doch möglich sein, daß sich alle Doppelgänger zusammentun, um nur noch eine Einnahmequelle zu versteuern, ihre (quittierten) Ausgaben aber weiterhin doppelt belassen. Helmut Höge