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„Sie haben sie einfach zu Tode geknüppelt“

Seit gestern erinnert im Berliner Robert-Koch-Institut eine eindringliche Ausstellung an die „Verfolgten Ärzte im Nationalsozialismus“. Das Gedenken tut not: In Nachkriegsdeutschland wurde die Teilhabe der Halbgötter in Weiß am Mord an den Kollegen totgeschwiegen  ■ Von Philipp Gessler

In den Kellerräumen einer Kaserne an den Gleisen Richtung Anhalter Bahnhof durchbrach Anfang April 1933 Hundegebell die Stille. Max Leffkowitz, Oberarzt in der II. Inneren Abteilung des Krankenhauses Moabit, kroch auf allen Vieren auf dem Boden und bellte. Er stand auf und rief „Heil Hitler“, bevor Pistolenkugeln die Konturen seines Körpers an der Wand hinter ihm nachzeichneten – so ähnlich, wie man es von Messerwerfern aus dem Zirkus kennt.

Der jüdische Arzt aber hatte Glück, er überlebte die Prügeleien und Mißhandlungen seiner SA-Wächter: Der 31jährige wurde nach wenigen Tagen entlassen, da er früher einmal einen prominenten Nazi behandelt hatte. Nicht alle verließen den Keller der Kaserne lebend.

An diese Geschichte zu erinnern, darum bemüht sich seit gestern die Ausstellung „Verfolgte Ärzte im Nationalsozialismus“ auf dem Gelände des früheren SA-Gefängnisses im Berliner Bezirk Tempelhof. Es war ein sogenanntes „wildes“, das heißt nicht geplantes KZ, das von März bis Dezember 1933, dem Jahr der Machtübernahme der Nationalsozialisten, bestand. Das Besondere an der Ausstellung: Das Robert-Koch-Institut (RKI), ein Bundesinstitut zur Erforschung von Infektions- und nicht übertragbaren Krankheiten, hat sie initiiert. Es ist eine Art Exorzismus.

Denn die Gebäude der alten Kasernen, gebaut vor etwa hundert Jahren für kaiserliche Eisenbahnregimenter, werden heute vom RKI genutzt. Von den Ärzten und Forschern der RKI selbst kam die Anregung, der getöteten und mißhandelten Kolleginnen und Kollegen in den schaurigen Räumen zu gedenken. Und dieses Gedenken tut not. Denn lange Zeit wurde auch in der Ärzteschaft der Nachkriegszeit das Weggucken, die Anpassung und die Mitarbeit der Halbgötter in Weiß am Morden verdrängt.

Zwar waren „nur“ knapp 400 von etwa 90.000 Ärzten zwischen 1933 und 1945 direkt an den Verbrechen der Nazis beteiligt – berühmt und berüchtigt sind ärztliche Sadisten wie Josef Mengele in Auschwitz. Bezeichnend aber ist, daß Ärzte in weit höherem Maße als andere Berufsgruppen in der NSDAP und anderen NS-Organisationen Mitglied waren und „die Selbstgleichschaltung der ärztlichen Verbände so schnell und so reibungslos verlief“, wie es im Vorwort zu einer Dokumentation über die Ausstellung selbstkritisch heißt.

Mindestens 2.000 Männer und Frauen wurden an der General-Pape-Straße während der Nazizeit inhaftiert, mißhandelt und gefoltert. Unter ihnen waren bekannte Persönlichkeiten wie die Autoren Lion Feuchtwanger, Arnold Zweig und Manès Sperber. Über 20 tatsächliche und vermutete Gegner des Naziregimes wurden in den Kellern der SA ermordet. Wie, das beschreibt einer der Ärzte, die in der Ausstellung beispielhaft porträtiert werden: Prof. Erich Simenauer, Chirurg am Kreuzberger Urban-Krankenhaus. Er wurde kurz nach der Machtübernahme der Nazis zusammen mit einer Reihe anderer jüdischer Ärzte in die General-Pape-Straße gebracht. Da er kurz zuvor einem seiner Bewacher den Blinddarm herausgenommen hatte, notierte der auf der Rückseite eines Laufzettels ausdrücklich: „Nicht mißhandeln.“ Als Siemenauer bei einer Prügelorgie an der Reihe war, zeigte er die Notiz. „Darauf befahl mir einer: ,Hinlegen!' und ich warf mich zu Boden und wurde verschont. Rechts und links von mir wurden einige Leute mit Knüppeln so lange geschlagen, bis sie tot waren, es war entsetzlich. Wenn sie sie wenigstens erschossen hätten, aber sie haben sie zu Tode geknüppelt! Mir hat dieser Zettel das Leben gerettet.“ In der Kaserne an der General-Pape-Straße waren einige Angehörige von NS-Organisationen inhaftiert, die sich durch Mißhandlungen der übrigen Gefangenen rehabilitieren konnten.

Zu den körperlichen Brutalitäten kam seelische Folter: Todesdrohungen, erzwungenes Schlagen von Mithäftlingen, das Singen von faschistischen Liedern – andere Häftlinge mußten sadistische Schikanen erleiden: Ihre Haare wurden mit stumpfen Scheren geschnitten, sie mußten mit bloßen Händen die Toiletten reinigen.

Auch Frauen waren im „wilden“ KZ eingesperrt. „Jeden Tag wurden wir mit Fäusten und Lederpeitschen geschlagen“, erinnert sich die damals 26jährige Ruth H. „Damit wir die Schläge besser spürten, wurden wir mit Wasser begossen und die Kleider völlig durchnäßt.“ Wer nicht das Horst-Wessel-Lied singen wollte oder konnte, wurde verprügelt. „Das Schrecklichste aber war, daß wir gezwungen wurden, zuzusehen, wie einige Frauen an ein Holzpferd angeschnallt und dort vor unseren Augen von den SA-Mannschaften vergewaltigt wurden.“

Unter den Geschichten jüdischer Ärzte, die in der Ausstellung vorgestellt werden, gehört die von Arno Philippsthal zu den anrührendsten. Der Allgemeinmediziner hatte eine Praxis in Biesdorf, einem Ost-Berliner Stadtteil, und war äußerst beliebt – unter anderem, da er seine Honorarforderungen vom Einkommen seiner Patienten abhängig machte. Vermutlich aufgrund einer Denunziation wurde der 45jährige am 21. März 1933 ohne Begründung oder Haftbefehl festgenommen. Offenbar war er klar als Feind der Nazis aufgetreten: Überliefert ist seine Äußerung gegenüber einer Patientin, sie solle doch das Horst-Wessel-Lied singen, wenn ihr das helfe.

Eingeliefert in das SA-Gefängnis, wurde der Arzt schwer mißhandelt und noch am selben Tag in das Urban-Krankenhaus eingeliefert. Von dort wurde er offenbar fünf Tage später wieder abgeholt und zwei Tage später ins Staatskrankenhaus der Polizei eingeliefert. Dort starb er am Morgen des 3. April an seinen schweren Verletzungen. Der Totenschein stellt als Todesursache „Blutvergiftung ausgehend von Abszessen“ fest.

Erstaunlich ist, daß seine Patienten es wagten, entgegen der offiziellen antijüdischen Hetze, die durch die Stadt fegte, einen Nachruf für Philippsthal zu verfassen, und auch eine Zeitung fanden, die bereit war, ihn zu veröffentlichen. „Er war uns mehr als nur Arzt, er war uns Helfer, Berater und Freund im besten Sinne“, heißt es darin.

Die Ausstellung versucht, auch den ideellen Verlust darzustellen, den die Inhaftierung, die Vertreibung oder die Ermordung des jüdischen oder nazikritischen Teils unter den Weißkitteln der Hauptstadt darstellte. Gerade Berlin war geprägt von Juden in der Ärzteschaft: Anfang 1933 waren von den 6.800 Ärzten in der Metropole 3.500 jüdischer Herkunft. Von den 334 Hochschullehrern der Medizinischen Fakultät der Universität Berlin wurden etwa 40 Prozent aufgrund von diskriminierenden Nazigesetzen entlassen. Von ihnen emigrierten die meisten, 31 starben in Deutschland, davon sechs in Konzentrationslagern, vier durch Suizid und 21 unter ungeklärten Umständen. Besonders einschneidend war der Bruch in den Kliniken: Im Krankenhaus Moabit wurde mehr als die Hälfte der Ärzteschaft entlassen, in den Krankenhäusern der Stadtteile Friedrichshain und Neukölln lag die Quote bei etwa zwei Dritteln. Unnötig zu erwähnen, daß auf die freiwerdenden Plätze häufig treue, aber weniger qualifizierte Naziärzte nachrückten.

Welch ein Bruch diese Barbarei darstellte, wird deutlich an der Geschichte von Lydia Rabinowitsch-Kempner. Die jüdische Wissenschaftlerin war zwar nicht in der General-Pape-Straße inhaftiert, wird aber in der Ausstellung porträtiert, um auch die wissenschaftliche Katastrophe darzustellen, die die Verdrängung jüdischer Persönlichkeiten aus der medizinischen Forschung und Lehre bedeutete. Rabinowitsch-Kempner war Assistentin Robert Kochs gewesen, der die Bakteriologie begründete und dem RKI den Namen gab. Sie war Anfang des Jahrhunderts die erste Professorin der Medizin in Deutschland und erhielt durch Kaiser Wilhelm II. höchstderoselbst ihren Professorentitel. Ihr Spezialgebiet war der Kampf gegen die Tuberkulose, der allein in Preußen jährlich 60.000 Menschen zum Opfer fielen – die Tbc stand damals an der Spitze der Todesursachen. „Die Tuberkulose“, erkannte die führende Forscherin gegen diese Massenkrankheit, „ist eine soziale Krankheit. Hinsichtlich ihrer Anstekkungsgefahr und Sterblichkeit ist zu bemerken, daß sie die verschiedenen Bevölkerungsschichten um so härter trifft, je ungünstiger ihre Lage ist“.

Die international renommierte Professorin engagierte sich deshalb auch politisch – so wie fast alle Ärzte, die in der Ausstellung vorgestellt werden. Ihre häufig sozialistischen Einstellungen und ihre Forderungen nach einer sozial bewußten Medizin machten sie den Nazis um so suspekter. Schon 1896 etwa nahm Rabinowitsch-Kempner am Internationalen Frauenkongreß in Berlin teil und engagierte sich in mehreren Frauenvereinen für das Frauenstudium und das Frauenstimmrecht.

Doch mit dem nationalsozialistischen „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom April 1933 wurde sie ein Jahr später aus ihrem Amt als Leiterin des Bakteriologischen Instituts am Krankenhaus Moabit entlassen. Nach kurzer schwerer Krankheit starb sie einige Monate danach in Berlin. Sie wurde gerade mal 63 Jahre alt.

Das SA-Gefängnis in der General-Pape-Straße geriet übrigens nach dem Krieg in Vergessenheit. Durch Hinweise eines Zeitzeugen wurden 1992 die Kellerräume des Gefängnisses wiederentdeckt, 1995 organisierte Lea Rosh, die sich seit Jahren für ein zentrales Holocaust-Denkmal in Berlin stark macht, eine Ausstellung mit Künstlern, die heute auf dem Gelände leben. Erst seit 1981 erinnert überhaupt eine Gedenktafel an die Opfer der Nazischläger – sie wurde zwischenzeitlich gestohlen.

Die Ausstellung „Verfolgte Ärzte im Nationalsozialismus“ im Robert-Koch-Institut, General-Pape-Straße 62 in Tempelhof ist Montag bis Freitag von 9 bis 15 Uhr geöffnet. Der Eintritt ist frei. Interessierte können eine Dokumentation zur Ausstellung unter Tel. (030) 45 47-33 06 bestellen.

„Damit wir die Schläge besser spürten, wurden wir mit Wasser begossen und unsere Kleider völlig durchnäßt.“

„Das Schrecklichste aber war, zusehen zu müssen, wie Frauen an ein Holzpferd geschnallt und vergewaltigt wurden.“

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