: Schläfrige Schutzmacht
■ Weit weg von Arkadien: Francesco Zotti-Chiais' gräserne Dionysos-Figur in der Ruine der Franziskaner-Klosterkirche
Dionysos, bekannt als Gott des Weines, ist im ursprünglichen Sinn ein Gott der Vegetation, des Wachsens und Vergehens, von Tod und Wiederauferstehung. Er bewohnt den Olymp und weilt gelegentlich in Arkadien, einer dem Paradies ähnlichen Landschaft. Nun aber ist das Unvorstellbare passiert: Er hat sich in das eher unwirtliche Berlin verirrt und bewohnt zur Zeit die Ruine des ehemaligen Grauen Klosters in Mitte.
Wenn ihn einer besuchen will, schläft er. Aus seinem Körper wächst Gras, man könnte ihn auch für einen Hügel halten. Das Kirchengebäude wirft Schatten auf seine Körperlandschaft, von der Grunerstraße kommt Autolärm und Vogelgezwitscher.
Francesco Zotti-Chiais hat aus Strohballen eine riesige Figur gebaut. Sie liegt auf der Seite und nimmt einen Großteil des Kirchenschiffes in Anspruch. Der höchste Punkt, die Hüfte, wächst bis zu den Bogenansätzen der Pfeiler hoch. 14 Tage vor Ausstellungseröffnung hat der Künstler das Gras gesäht, das mittlerweile lang und buschig geworden ist. Der Weg um die Figur herum führt auf einem schmalen Gang in ihr Inneres wie in eine Katakombe. Nur langsam gewöhnt sich das Auge an die Dunkelheit. Es riecht nach Stroh, und die Luft fühlt sich feucht an. Leise hört man murmelnd-vertraute Stimmen in unterschiedlichen Sprachen. Frauen und Männer erzählen, was es für sie bedeutet, in einer Metropole zu leben.
Zotti-Chiais' Thema ist die Großstadt, in der sich diese vielen Schicksale kreuzen und wieder verlieren. Wie das zerstörte Kirchenschiff, das kein Ziel und keine Besatzung mehr hat, sind die Menschen mit ihrer Geschichte in der Metropole auf sich selbst zurückgeworfen – Fremdkörper in einer kalten technischen Welt. Die Natur aber – Dionysos – nimmt die Stadt und ihre Menschen in sich auf und legt ihren beschützenden Leib über Einsamkeit und Verletztheit. Dionysos kommt aus einer anderen Welt. Und jeder, der ihn entdeckt, muß verzaubert sein.
Wir wollen ihn nicht wecken, laßt uns leise sein. Sonst geht er für immer weg. Cornelia Gerner
bis 27. Juni, tägl. außer Mo, 12 – 18 Uhr, Ruine der Franziskaner-Klosterkirche in Berlin-Mitte
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