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Scheibengericht

What We Live

Quintet For A Day (New World Records 80553-2)

Das Schisma des Jazz in den 90er Jahren resultierte aus dem Streit über die Frage, wer die improvisierte Musik heute noch authentisch vertritt.Die Konservativen, für die der amerikanische Trompeter Wynton Marsalis zum Bannerträger wurde, attackierten den Weg des Jazz in die Freiheit als Sackgasse, während die Progressiven den Rückgriff auf Stilformen des Bebop und Cool Jazz als plagiatorisch geißelten.

What We live nennt sich ein Trio aus San Francisco, das Antworten weder im nostalgischen Aufguß der Tradition noch in der ausgeleierten Rhetorik der Radikalen sucht. Larry Ochs (Saxophon), Lisle Ellis (Kontrabaß) und Don Robinson (Schlagzeug) folgen einer Ästhethik, die den scheinbaren Widerspruch zwischen Tradition und Moderne in einem Konzept auflöst, das sowohl in die Vergangenheit wie in die Zukunft weist. Zusammen mit den Trompetern Dave Douglas und Wadada Leo Smith schlägt das „Quintet For A Day“ aus einer intelligenten Kombination von Altem und Neuem Funken. Sie ersetzen das Solospiel, das sowohl den traditionellen wie den freien Jazz bestimmt, durch ein ensemblebezogenes Interagieren, dessen wichtigstes Werkzeug das Ohr ist.

Bei der Koloratur der weiten Erzählbogen scheint eine unsichtbare Hand die Feder zu führen. Der Raum wird zum Komponisten und der Klang zum Arrangeur. Pausen werden nicht als Leerstellen empfunden, sondern stellen kurze Auszeiten dar, um den Beteiligten Zeit zu geben, tiefer in die Musik hineinzulauschen und sich auf den nächsten Einwurf zu konzentrieren. Die federnde Rhythmik von Baß und Schlagzeug hat auch etwas von einer Leinwand, auf die bedachtsam Figurationen aufgetragen werden, die wiederum zum Ausgangspunkt für weitere Ergänzungen und Einschübe werden. Aus diesem improvisatorischen Kollektivprozeß entsteht Schritt für Schritt eine luftige, doch farbintensive Klangmalerei, die im Ergebnis sehr heterogen ausfallen kann und häufig die leisen Lautstärkeregister bevorzugt. Vor dem Hintergrund der Stille kann das fast tonlose Blasen durch ein Trompetenmundstück, das leichte Anhauchen eines Saxophonblatts oder das Wirbeln der Schlagzeugbesen so kraftvoll wirken wie ein gellender Schrei.

Nashville Mandolin Ensemble

All The Rage – Mandolin Ensemble Music from 1897-1924 (New World Records 80544-2)

Italien ist das Mutterland der Mandoline. Die kleine Schwester der Laute existiert dort in einer Vielzahl von regionalen Varianten. Ihr flirrender Tremoloklang gibt nicht nur der Musik aus Neapel das romantische Flair. Obwohl die genaue Herkunft des Zupfinstruments im Dunkel liegt, steht fest, daß schon Antonio Stradivari „Mandolinos“ baute und Vivaldi Konzerte dafür schrieb. Reisende Virtuosen machten die Mandoline später in ganz Europa bekannt, wo sie Ende des 18. Jahrhunderts in Wien eine Blüte erlebte, als nicht nur Mozart und Beethoven Stücke für das bauchige Saiteninstrument schrieben. Hundert Jahre später wurde es von Arbeitern und kleinen Handwerkern entdeckt, die sich in Mandolinenorchestern zusammenschlossen. Solche Großformationen gab es nicht nur zu Hunderten in Italien, Deutschland und Frankreich, sondern vielerorts auch in den USA, wo die Mandoline selbst das Banjo an Popularität übertrumpfte – und das Jahrzehnte, bevor Bill Monroe die Mandoline zu einem Symbol der Bluegrass-Musik machte. Mandolinen-Virtuosen wie Guiseppe Pettine und H. F. Odell waren um die Jahrhundertwende so bekannt wie heute Jimi Hendrix und Eric Clapton. Vom Quartett bis zum 500köpfigen „Mammoth Mandoline Orchestra“ traten Gruppen in allen Größen auf.

Stücke aus der goldenen Ära der Mandolinenmusik bilden den Kern des Repertoire des Nashville Mandolin Ensembles. Bei der Gruppe handelte es sich um eine Großformation mit vierzehn Mitglieder plus Dirigent. Acht Mandolinen, vier Tenor- und Baßinstrumente namens Mandola und Mandocello, dazu Gitarre und Kontrabaß umfaßt die Besetzung, die vom Konzertwalzer über Märsche bis zu Polkas jeden erdenklichen Popularstil der Jahrhundertwende präsentierten. Selbst klassische Ouvertüren, auf Orchesterformat zurechtgestutzt, fehlen nicht. Die delikaten Interpretationen im rauschenden Plektrumklang können als Hommage an eine musikalische Basisbewegung verstanden werden, durch die sich die „kleinen Leute“ die Welt der Musik eroberten.

The Arthur S. Alberts Collection

More Tribal, Folk and Cafe Music of West Africa (Rykodisc RCD 10401)

Musikethnologen waren lange Zeit auf einem Ohr taub. Auf der Suche nach „authentischen Klängen“ in fernen Ländern überhörten sie häufig die populären Musikformen, die durch westliche Einflüsse diskreditiert schienen.

Dem Amerikaner Arthur Alberts fehlte dieser professionelle Defekt. Er war ein Musikenthusiast, der sich 1942 als Soldat von traditionellen Klängen aus Ghana derart faszinieren ließ, daß er sieben Jahre später mit seiner Frau zu einem „recording trip“ aufbrach. Die Reise im Jeep mit dem neuesten Aufnahmegerät im Kofferraum dauerte sechs Monaten und führte 6.000 Meilen durch Westafrika. Dabei durchquerten die Alberts sechs Kolonialdistrikte und nahmen Musiker von mehr als einem Dutzend verschiedener ethnischer Gruppen auf. Als fachliche Laien machten sie keinen Unterschied zwischen guten, „unverfälschten“ Klängen und „schlechten“ verwestlichten Sounds, sondern nahmen alles auf, was ihnen vors Mikrophon kam: die Musik der Dörfer ebenso wie die Klänge der Straßen und Nachtclubs in den Städten. Dabei entstand ein akustische Landkarte Westafrikas, wie sie bunter und facettenreicher nicht sein könnte. Vom Ballaphonensemble aus Burkina Faso über Trommelgruppen der Elfenbeinküste bis zu frühen Highlife-Ensembles aus Ghana reicht das Spektrum. An einer Straßenecke begegnet man Wandermusikanten aus Französisch-Guinea, die ein Lied zur Gitarren- und Kora-Harfenbegleitung zum besten geben. Im Schulhof von Ganta in Liberia kann man dem Vortrag eines Chors von Pennälern beiwohnen, während man später Arbeiter eines Steinsägewerks belauscht, die in der Mittagspause ein Lied anstimmen, das sie mit Hammerschlägen begleiten. Eine andere Aufnahme repräsentiert die Popmusik, wie sie vor einem halben Jahrhundert in Leopoldsville, dem heutigen Kinshasa, beliebt war. Sie ist vollgesogen von westlichen Einflüssen. Klarinette, Concertina und Gitarre geben im zairischen Rumba den Ton an, der vor den Ohren der Musikethnologen kaum Gnade gefunden hätte.

Ti-Coca/Toto Bissainthe

Haiti (World Network/Zweitausendundeins 32.373)

Die karibische Insel Hispaniola ist durch eine Grenze geteilt, die Haiti von der Dominikanischen Republik trennt. Merengue heißt die traditionelle Musik der Insel, worunter man allerdings dies- und jenseits des Schlagbaums Unterschiedliches versteht. In Santo Domingo ist Merengue ein rasanter Stakkatotanz, der lateinamerikanisches Feuer versprüht, whrend der Stil in Port au Prince einem eher wiegenden Rhythmus folgt. Er besitzt denselben gelassenen Swing, wie die traditionelle Tanzmusik von den Kleinen Antillen, was gemeinsame französisch-katholische Wurzeln verrät.

Während der dominikanische Merengue vom Klang des Akkordeons geprägt ist, trifft man die Ziehharmonika in Haiti seltener an. Die Combo des Troubadours David „Ti-Coca“ Mettelus bildet eine Ausnahme. In seinem Quintett übernimmt das europäische Balginstrument die zweite Führungsstimme, deren Aufgabe es ist, im Wechselspiel auf die Gesangspassagen mit wieselflinken Tonfolgen zu reagieren. Das Banjo schrammt Akkorde, die Conga klopft den Takt und der Kontrabaß setzt Eckpunkte für die Liedverse, die zwischen religiösem Spiritismus und schlüpfriger Zweideutigkeit schwanken und zu denen es sich sanft in der Hängematte schaukeln läßt.

Tiefer in schwarzer Magie verwurzelt ist die Sängerin Toto Bissainthe, eine initiierte Voodoopriesterin. Ab 1953 lebte sie im Exil in Paris, wo sie 1994 starb. Unterstützt vom dumpfen Hall der Trommeln und den gegenläufigen Vokallinien ihrer zwei Begleitsängerinnen zelebriert Bissainthe ihre Songs wie die Gesänge einer Voodoomesse. Mehr und mehr bündeln sich die drei Stimmen zu einer dunklen Intensität, deren beschwörender Kraft man sich kaum entziehen kann.

The Allen Brothers

The Complete Works in Chronological Order, Vol. 1, 2 und 3 (Document Records DOCD 8033-35)

Freddie Roulette

Spirit of Steel (Tradition & ModerneT&M 014)

m Jahre 1928 strengte das weiße Hillbilly-Brüderduett Austin und Lee Allen, bekannt als die Allen Brothers, eine Schadenersatzklage wegen Rufschädigung gegen die Schallplattenfirma Columbia an. Was war passiert? Im Dezember 1927 hatten die Allen-Brüder für Columbia ein paar Songs aufgenommen, die im Januar in die Läden kamen. Dort wurden sie jedoch als „Race Records“ verkauft, weil in der New Yorker Firmenzentrale beim Abhören der Bänder der Lapsus unterlaufen war, die Allen-Brüder als schwarze Musiker einzustufen und der 14.000-Serie zuordnete. File under „Race“! Dieser berühmte Rechtsfall aus den Annalen der Countrymusik unterstreicht die Tatsache, daß die Musik des amerikanischen Südens kaum Stilschablonen kannte. Musiker waren Generalisten, die aus der ganzen Vielfalt der regionalen Stile schöpften. Spezialisten waren sie nur auf ihrem Instrument, mit dem sie Nummern egal welchen Stils anstimmten.

Was früher eine Selbstverständlichkeit war, findet man heute eher selten. Freddie Roulette ist auf der aktuellen Szene ein solch rares Exemplar der alten Schule. Für sein Programm hat er sich Rosinen aus Soul, Jazz, Blues, Country und karibischer Musik herausgepickt, welche er mit seinem phänomenalen Slidegitarrenspiel auf eine Weise interpretiert, die keine Grenzen akzeptiert. Mit leichtem Händchen zaubert er erstaunliche Licks und wasserfallartige Klangkaskaden hervor, läßt Töne wie Meteore durch Klang-Galaxien gleiten oder wie Sonnenstrahlen durch die Wolken brechen. Die Holmes Brothers als Rhythmusgespann beherrschen die Roots Music aus dem Dreieck von Nashville, New Orleans und Austin im Schlaf und geizen nicht mit lockeren Grooves. Rudy Costa – aus den Gruppen von Taj Mahal – bläst dazu ein feuriges Saxophon. Nach Jahrzehnten der Stilborniertheit scheint das Schubladendenken langsam zu verschwinden. Es könnte sein, daß Freddie Roulette genau zum richtigen Zeitpunkt auf der internationalen Szene erscheint.

Cephas & Wiggins

Homemade (Alligator Records ALCD 4863)

Unter dem Dröhnen der Großstadt verstummt das Land. Seit Ende der 40er Jahre hat der urbane Rhythm & Blues den unverstärkten Country Blues mehr und mehr zum Schweigen gebracht hat. R&B-Bands gibt es heute wie Sand am Meer, während man die profilierten Exponenten der akustischen Urform der schwarzen Musik mit der Lupe suchen muß. Neben Corey Harris und Alvin Youngblood Hart haben sich in den letzten Jahren Cephas & Wiggins mehr und mehr ins Rampenlicht geschoben. Die beiden bilden ein klassisches Gitarren-Mundharmonika-Duo und bauen auf der Hinterlassenschaft von Sonny Terry und Brownie McGhee auf. Dabei schöpfen sie aus dem Erbe des sogenannten Piedmont-Blues, der dominanten Stilrichtung des „Eastern Old South“, der einstmals Alabama, Virginia, Georgia und North und South Carolina umfaßte, wo 1930 mehr als die Hälfte der schwarzen Farmbevölkerung lebte. Östlich des Deltas wurde sanfter und feinfühliger musiziert.

John Cephas stammt aus diesem Landstrich. Er wuchs in den Depressionsjahren in Bowling Green, Virginia auf und hat die klagenden Bluessongs mit der Muttermilch aufgesogen. Erst später hat er Klassiker wie Reverend Gary Davis, Blind Boy Fuller, Blind Blake und Blind Willie McTell studiert und sich eine delikaten Fingerpicking-Technik angeeignet, die Ragtime-Synkopen zu den Baßläufen zupft, die er mit dem Daumen auf den unteren Saiten anschlägt. Als Kontrast zu Cephas dunkler Baritonstimme bläst Phil Wiggins seine Harmonika bisweilen so schrill und heiser, daß sie wie eine Kindertröte kreischt, wenn er nicht gerade dem Gesang ein raffiniertes Rhythmusmuster unterlegt, das entfernt an den kratzigen Beat eines Zydeco-Waschbretts erinnert.

Seit den 30er Jahren hat sich die Welt verändert. Landflucht, Verstädterung und die Migrationswellen der Schwarzen haben dem Country Blues die gesellschaftliche Basis entzogen. Er hat sich von einem Naturgewächs des Südens, wo einst die Gitarrenhälse aus der Erde wuchsen, zu einer afroamerikanischen Kunstform entwikkelt, die man auch im Konzertsaal goutieren kann.

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